Aus der Welt
mich auch bemühte, die Gedanken an meinen Vater hörten nicht auf, mich zu verfolgen. Seit seinem Verschwinden hatte ich oft überlegt, wo er sich jetzt wohl aufhalten mochte. Lebte er unter falschem Namen in irgendeinem südamerikanischen Strandkaff? Hatte er sein Aussehen verändert, sich einen uruguayischen Pass besorgt und sich eine zwanzigjährige puta genommen, mit der er untertauchen konnte? Vielleicht hatte er sich auch mit einer falschen Sozialversicherungsnummer wieder in die Vereinigten Staaten eingeschmuggelt und lebte jetzt in irgendeiner anonymen Großstadt.
Wie sehr ich mich danach sehnte, jeden Gedanken an ihn aus meinem Kopf zu verbannen! Aber kann man einen problematischen Elternteil jemals auslöschen? Man kann vielleicht mit der Zerstörung leben, die er in der eigenen Psyche hinterlassen hat, aber aus dem Gedächtnis löschen lässt er sich nicht.
Doch Wut hat auch ihre Vorteile, wenn man sie als Antriebsfeder nutzt. Aus einem Achtstundentag wurde ein Zehnstundentag, und als ich irgendwann anfing, um drei Uhr morgens wach zu liegen, arbeitete ich auch die halbe Nacht durch. Den Rest der Woche schlief ich nicht länger als fünf Stunden am Stück. Bis auf meine beiden täglichen Strandspaziergänge – und hin und wieder eine kleine Einkaufstour, um mich im örtlichen Lebensmittelladen mit neuem Proviant zu versorgen – fuhr ich mit meiner Redaktion fort.
Am dritten Sonntag war ich um sechs Uhr abends fertig. Ich tippte den letzten Satz, starrte ein paar Minuten wie in Trance auf den Bildschirm und dachte: Und nach der vielen Arbeit wird bestimmt nie ein gedrucktes Buch daraus. Aber jetzt war es wenigstens fertig.
Am nächsten Morgen stieg ich nach dem Frühstück und dem üblichen Strandspaziergang bei Sonnenaufgang in meinen Wagen und fuhr nach Halifax. Als Erstes steuerte ich ein Internetcafé in der Spring Garden Road an. Mein E-Mail-Postfach war ziemlich leer. Es enthielt einen Dreizeiler von meiner Mutter: »Ich hoffe, Du bist nicht mehr böse auf mich. Du scheinst dich über alles aufzuregen, was ich sage. Ich würde mich über einen Anruf freuen …« Vergiss es. Eine beruhigende E-Mail von Dwight Hale: »Das FBI scheint kein weiteres Interesse daran zu haben, Sie über Ihre Zeit bei Freedom Mutual zu befragen. Sie können also getrost nach Hause zurückkehren, wenn Sie das wollen.« Ein kurzes Hallo von Christy: »Wie geht’s Dir auf Deiner Flucht? Ich freue mich auf eine kurze Nachricht, verrate mir, wo Du steckst!« Und folgende E-Mail von der Harvard-Stellenbörse:
Liebe Miss Howard,
wie wir vermerkt haben, bewarben Sie sich vor einiger Zeit wieder um eine Universitätsanstellung. Bitte rufen Sie uns so bald wie möglich an. Es geht um eine Stelle, die soeben in der Anglistik-Fakultät der New England State University frei wurde.
Mit freundlichen Grüßen,
Margaret Noonan
Als ich die Wörter New England State University las, biss ich mir auf die Unterlippe. Es war eine drittklassige Uni, auf die Highschool-Versager gingen oder jene, die keine Lust hatten, sich besonders anzustrengen. Aber es war ein Stellenangebot. Obwohl ich genügend Geld auf der Bank hatte, glaubte ich arbeiten zu müssen, weshalb ich vor einer Woche an Harvard gemailt und mich um eine Universitätsanstellung beworben hatte. Denn wie konnte ich etwas so Gewagtes tun, wie ein Jahr nach Paris gehen – oder durch Südamerika reisen –, wenn ein Job an einer wenig renommierten Universität (immerhin in Boston) auf mich wartete?
Als ich an jenem grauen Vormittag in diesem Internetcafé in Halifax saß, sah ich genau vor mir, was ich auf keinen Fall tun sollte: Margaret Noonan anrufen, nach Boston zurückkehren, zum Vorstellungsgespräch gehen, eine Vollzeitstelle als Universitätsdozentin annehmen und mir hinterher bis in alle Ewigkeit vorwerfen, mich in eine berufliche Sackgasse begeben zu haben.
Ruf nicht in Harvard an , redete ich in diesem Café in Halifax auf mich ein. Aber ich rief dort an. Und bekam den Job. Und als ich die Stelle antrat, dachte ich: Unser Bedürfnis nach Sicherheit zwingt uns in ein Leben, das wir eigentlich gar nicht führen wollen.
2
Mein Büro an der New England State University befand sich im Erdgeschoss eines nichtssagenden Gebäudes. Der Raum war knapp sieben Quadratmeter groß und besaß nur ein schmales Fenster, das immer blind war vor Schmutz. Das bisschen Licht, das hereinkam, wurde durch das Prisma einer verschmierten Fensterscheibe gebrochen. Wenn es schneite – und
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