Aus der Welt
deren kahler Kopf teilweise mit einem Schal bedeckt war.
Ich nahm all diese nebensächlichen Details in mir auf. Sie alle ließen auf ein Leben schließen, das noch voll im Gange war – ganz so, als hätte Deborah Holder das Zimmer nur für ein paar Minuten verlassen und müsste jederzeit zurückkommen. Professor Sanders schien Gedanken lesen zu können, denn er sagte: »Sie hat das Krankenhaus nach der letzten Chemotherapie auf eigenen Wunsch verlassen und darauf bestanden, dass es ihr gut genug ginge, um zu unterrichten. Wie sich herausstellte, verließ sie das Krankenhaus erst, als man bereits nichts mehr für sie tun konnte. Aber sie war wild entschlossen, zu ihren Studenten zurückzukehren, und hielt ihre Diagnose vor allen geheim. Wir könnten ihren Mann bestimmt bitten, alles für Sie auszuräumen, wenn Sie auf keinen Fall in dem schwarzen Loch arbeiten wollen … Das ist natürlich nicht so geräumig, um genau zu sein: Es ist wahnsinnig eng. Aber …«
»Ich nehme es.«
Sanders nickte zustimmend und bedeutete mir dann, ihm in sein Büro zu folgen. Es war ein großer Raum mit Regalen vom Boden bis zur Decke, einem mächtigen Schreibtisch aus Eichenholz, gerahmten Stichen von Hogarth, die das London des 18. Jahrhunderts zeigten (sein Spezialgebiet waren Swift und dessen Zeitgenossen). Über dem Linoleumboden lag ein durchgescheuerter Perserteppich. Er bat mich, im Ohrensessel vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen.
»Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich könnte jetzt einen steifen Drink vertragen. Immer, wenn ich Deborahs Büro betrete …« Er verstummte.
»Ich würde nicht Nein sagen«, sagte ich.
Sanders öffnete einen Aktenschrank und zog eine Flasche Teacher’s sowie zwei Gläser heraus.
»Ganz wie bei Philip Marlowe«, sagte er und schenkte mir zwei Fingerbreit ein.
»Ich wusste gar nicht, dass Raymond Chandler auch zu Ihrem Spezialgebiet gehört«, sagte ich und nahm das Glas entgegen.
»Das tut er auch nicht. Ich habe den Fehler gemacht, mich in die Epoche von George III. zu verrennen. Sie beschäftigen sich wenigstens mit etwas Konkreterem, Neuerem, mit etwas, das dieses Land ganz aktuell betrifft.«
»Muss denn alles unmittelbar relevant für unsere heutige Zeit sein?«, fragte ich und stieß mit ihm an.
»Wenn es nach den Kulturbanausen geht, die im Leitungsgremium dieser Universität sitzen … Die erkennen keinen Sinn darin, den Geisteswissenschaften mehr Mittel zu bewilligen, geschweige denn jenen Disziplinen, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen. Bitte entschuldigen Sie, ich fange an zu jammern.«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ihre Wut klingt mehr als gerechtfertigt.«
Er zog eine Schreibtischschublade auf und nahm drei dicke Mappen heraus.
»Das sind Debbie Holders Vorlesungsnotizen. Sie haben ein ziemlich langes Wochenende vor sich, wenn Sie Ihren Studenten am Montagmorgen gut vorbereitet gegenübertreten wollen.«
Womit er recht hatte. Ich ging nach unserem Gespräch direkt nach Hause und verbrachte die beiden nächsten Tage damit, mich in Debbie Holders Vorlesungen zu vertiefen. Einerseits fühlte ich mich wie ein Leichenfledderer, als ich mir diese Notizen durchlas und mir ein Bild davon machte, wie sie Seminare hielt und welche Haltung sie gegenüber den Naturalisten und Dickinson einnahm. Es gab Momente, in denen ich eine dezidiert andere Meinung vertrat – vor allem, wenn sie versuchte, bestimmte Leitmotive in Dreiser hineinzuinterpretieren. Aber ihre Analysen der Binnenverse und der Metaphysik von Emily Dickinsons Gedichten beeindruckten mich sehr. Die Leidenschaft, mit der sie die Werke diskutierte, war sowohl bemerkenswert als auch einschüchternd. Ich bekam zwangsläufig den Eindruck, dass sie mir um einiges überlegen war, ein echtes Naturtalent in der Einschätzung literarischer Strömungen. Natürlich empfand ich so etwas wie Neid – einen gesunden Neid, den man spürt, wenn man jemandem begegnet, der die Messlatte höher legt, und zwar auf dem Gebiet, auf dem man sich ebenfalls tummelt. Jemandem, der einfach in einer anderen Liga spielt. Ihre Notizen zu lesen war sowohl ernüchternd als auch deprimierend, da ich nach diesem Wochenende erst richtig begriff, welch Riesenlücke Deborah Holder hinterließ.
Als ich am frühen Montagmorgen an die New England State University zurückkehrte, war ich sehr nervös. Mein erster Tag als Dozentin hatte begonnen. Und als ich mit einem selbstbewussten Lächeln den Seminarraum betrat, sagte mir eine
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