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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
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Sie Bescheid. Ich kenne die dortige Anglistik-Fakultät in- und auswendig.«
    Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, bedauerte ich sie auch schon. Professor Sanders konnte sich nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen.
    »Das bezweifele ich auch nicht, Jane. Wirklich nicht.«
    Als ich in mein Büro zurückkehrte und die Liste mit den 73 Studenten in meinem Seminar über die amerikanischen Naturalisten durchsah, stellte ich fest, dass Lorrie Quasthoff ebenfalls daran teilnahm. Der Kurs war so riesig und fand in einem so großen Vorlesungssaal statt, dass ich sie zuvor in der Menge übersehen hatte. Aber als ich an jenem Nachmittag hinkam, überflog ich die Reihen mit Studenten und sah, dass sie ziemlich weit rechts hinten saß, und zwar ganz alleine. Als ich nach ihr suchte, sah ich auch Michaels, seine muskulösen Gefolgsleute und ihre blonden Gespielinnen. Als sich unsere Blicke trafen, zog er eine Grimasse und gab den ungezogenen Schuljungen, der von seinem Lehrer ertappt wird. Dann zwinkerte mir der Mistkerl auch noch zu, als wollte er sagen: »Du hast wohl gedacht, du kannst mich suspendieren lassen, was?«
    Ich räusperte mich laut, um die Klasse zur Ordnung zu rufen, wünschte allen einen schönen Nachmittag und kam wieder auf Eine amerikanische Tragödie zu sprechen. Ich erwähnte die makabre Szene, die zu Clydes Hinrichtung führt – für ein Verbrechen, das er gar nicht begangen hat. Als ich mich ihrer Aufmerksamkeit mit Details über die Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl versichert hatte, fragte ich, ob jemand wisse, welches berühmte literarische Werk Dreisers Roman beeinflusst haben könnte. Niemand meldete sich. Ganz hinten sah ich, wie Lorrie Quasthoff die Hand heben wollte, sich aber nicht traute.
    »Miss Quasthoff«, sagte ich, »Sie wollten etwas sagen?«
    Kaum hatte ich das Wort Miss Quasthoff in den Mund genommen, sah ich, wie Michaels einem Freund zufeixte. Währenddessen stand Lorrie plötzlich auf. Mit einer viel zu lauten Stimme sagte sie: »Die Antwort lautet Dostojewski. Dreiser liebte Schuld und Sühne und griff ebenfalls auf das Thema Selbstbestra-, stra-, stra- …«
    Sie verhaspelte sich und wiederholte die Silbe, bei der sie stecken geblieben war, immer wieder. Das Gekicher von Michaels und Konsorten wurde lauter. Und als ich hörte, wie er sie leise nachäffte – » stra-, stra-, stra- « –, stürzte ich mich auf ihn.
    »Mr Michaels«, rief ich. »Aufstehen, und zwar sofort!«
    Plötzlich waren alle sehr still – und Michaels wirkte ziemlich beunruhigt.
    »Ich sagte: Aufstehen, und zwar sofort.«
    Michaels stand auf und sah mich an – damit wollte er mich wohl einschüchtern, doch ich schüttelte nur den Kopf.
    »Was sagten Sie gerade?«
    »Nichts.«
    »Das stimmt nicht, und das wissen Sie genau. Sie haben Miss Quasthoff verspottet.«
    »Nein, hab ich nicht.«
    »Ich habe Sie deutlich gehört, Mr Michaels. Sie sagten stra, stra, stra , als Miss Quasthoff Schwierigkeiten mit dem Wort hatte. Hat sonst noch jemand gehört, wie sich Mr Michaels über Miss Quasthoff lustig gemacht hat?«
    »Ich«, sagte Lorrie Quasthoff. »Das macht er ständig. Ständig nennt er mich ›Spasti‹ oder ›Rain Man‹. Er schüchtert alle ein, nur, um seinen Freunden zu imponieren.«
    »Es tut mir wirklich leid, wenn ich …«, hob Michaels an.
    »So wie es Ihnen leidtut, mich während meiner Vorlesung zu beleidigen«, sagte ich. »Und ich habe Sie mit einer Entschuldigung davonkommen lassen, weshalb Sie heute überhaupt hier sitzen. Aber sich daraufhin über eine Studentin mit einer Behinderung lustig zu machen … Da wird eine einfache Entschuldigung nicht mehr reichen, fürchte ich. Ich werde doch eine Meldung machen müssen, Mr Michaels, und diesmal werden Sie automatisch suspendiert werden. Und jetzt verschwinden Sie auf der Stelle aus meinem Seminar.«
    Diesmal sah er sich nicht Hilfe suchend nach seinen Freunden um. Er rannte nur zum Ausgang, drehte sich dort um und schrie mich an: »Wenn Sie glauben, dass Sie sich das erlauben können, täuschen Sie sich«, und knallte die Tür hinter sich zu.
    Nach dem Seminar bat ich Lorrie Quasthoff, noch kurz zu bleiben. Nachdem alle anderen den Raum verlassen hatten, stand sie neben meinem Schreibtisch und verriet mir ihre Nervosität dadurch, dass sie sich vor und zurück wiegte.
    »Das werden die mir heimzahlen. Und wie die mir das heimzahlen werden! Das werde ich bitter bereuen. Sie hätten mich da nicht mit reinziehen dürfen.«
    Ihr Hinundherwiegen

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