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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
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vollkommen überrascht. Sie hatten keine Ahnung, dass er in seiner Freizeit Gedichte schrieb – so wie wahrscheinlich niemand bei Charles Raymond and Co. wusste, dass Charles Ives komponierte.«
    Meine Güte, das Mädchen ist aber echt belesen. Aber warum starrt sie die ganze Zeit auf den Boden und wiegt sich vor und zurück, wenn sie spricht?
    »Weiß sonst noch jemand, wer Charles Ives war?«, fragte ich den Kurs.
    Schweigen.
    »Lorrie, würden Sie so nett sein und …?«
    »Charles Ives, 1874 bis 1954«, sagte sie laut und stand auf, um fortzufahren: »Ein amerikanischer Komponist, der für seine Polyrhythmik, Polytonalität, für seine Vierteltöne und seine Zufallstechnik bekannt ist. Zu seinen bekannteren Werken gehören The Unanswered Question (1906) und Three Places in New England (1903 bis 1914). Im Jahr 1947 erhielt er den Pulitzer-Preis für Musik.«
    Es war, als sagte sie einen Lexikoneintrag auf, aber meine Neugier war sofort geweckt. Als ein Seminarteilnehmer – ein sehr schicker Typ in einem cremefarbenen Ralph-Lauren-Pulli mit Rundhalsausschnitt – über ihren roboterhaften Tonfall kicherte, warf ich ihm einen scharfen Blick zu, sodass er sofort mit einer Entschuldigung an sie herausplatzte. Lorrie schien das gar nicht zu bemerken.
    »Das ist ja sehr beeindruckend, Lorrie«, sagte ich. »Aber abgesehen davon, dass beide bei einer Versicherung gearbeitet und den Pulitzer-Preis gewonnen haben – gibt es da noch andere Übereinstimmungen zwischen Stevens und Ives?«
    Komm schon, Mädchen … zeig deinen Kameraden, wie klug du bist.
    Wieder vermied sie jeglichen Blickkontakt. Und wieder wiegte sie sich während des Sprechens vor und zurück wie ein orthodoxer Rabbi beim Beten.
    »Beide haben die Möglichkeiten von Sprache erweitert. In Ives’ Fall war es eine musikalische Sprache, bei Stevens die reduktive Abstraktion.«
    Reduktive Abstraktion! Gut gemacht!
    »Letztere erlaubte es ihm, sich in einem Stil über große metaphysische Themen zu äußern, der zwar reich an Metaphern, aber nicht schwülstig ist.«
    Dann setzte sie sich.
    »Das ist brillant, Lorrie – und Sie haben vollkommen recht mit dem, was Sie über Stevens’ Sprache gesagt haben. Aber ich würde gern auf die erste Frage zurückkommen: ob Sie denken, dass Stevens’ konservativer Beruf dazu beitrug, seine Lyrik noch experimenteller zu machen.«
    Sie stand erneut auf.
    »Es geht nicht darum, was ich denke, sondern darum, was Sie denken.«
    »Trotzdem gebe ich die Frage an Sie zurück – was vielleicht unfair ist, aber so funktioniert das nun mal.«
    »Was ich denke?«, fragte sie wie ein Roboter.
    »Ja, bitte.«
    Eine lange Pause entstand.
    »Ich denke … ich denke … ich denke wirklich , dass wenn man einen wirklich langweiligen Beruf hat – wie bei einer Versicherung zu arbeiten –, dass man dann wirklich eine Fluchtmöglichkeit braucht.«
    Das brachte ihr großes Gelächter von ihren Kurskollegen ein – und Lorrie Quasthoff, die von dieser Beifallsbekundung überrascht war, lächelte kurz. Dann setzte sie sich wieder.
    Ich hoffte, sie nach dem Seminar ansprechen zu können, aber sie war schon aus der Tür, bevor ich dazu kam. Als ich am Nachmittag Professor Sanders auf dem Flur der Anglistik-Fakultät begegnete, erwähnte ich, wie außergewöhnlich Lorrie Quasthoff sei.
    »Ja, ich wollte auch schon mit Ihnen über sie sprechen«, sagte er. »Sie ist ein Sonderfall. Sie ist eine hochfunktionale Autistin.«
    Plötzlich ergab alles einen Sinn: die monotone Sprechweise, die Unfähigkeit, Blickkontakt herzustellen, das Sich-vor-und-zurück-Wiegen.
    »Wir haben sie nach reiflicher Überlegung aufgenommen, was weniger etwas mit ihrer Intelligenz zu tun hatte – die, wie Sie selbst gesehen haben, außerordentlich ist –, sondern damit, ob sie sich sozial in das Uni-Umfeld eingliedern kann. Bisher hat sie sich gut gemacht, obwohl ein paar von den Jungs sich manchmal über sie lustig machen. Freunde hat sie auch nicht gerade viele. Wir haben ihr einen Helfer zur Seite gestellt, der sich um sie kümmert und darauf achtet, dass sie zurechtkommt. Wie sich herausstellt, ist sie hervorragend organisiert – der Assistent meinte, ihr Zimmer sei tipptopp aufgeräumt. Außerdem hat sie eine unheimlich schnelle Auffassungsgabe. Sie ist erst im ersten Studienjahr, aber ich habe sie der Uni in Cambridge empfohlen … und ich glaube, Harvard wäre dumm, sie nicht zu nehmen.«
    »Wenn ich irgendetwas tun kann, um Sie darin zu unterstützen, sagen

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