Aus Freundschaft wurde Liebe (German Edition)
Gelegenheit hatte, dem Kind näherzukommen. „Ich vermute, Ihre Tochter gehört zu den Menschen, die es einem fast unmöglich machen, ihnen einen Wunsch abzuschlagen“, stellte er fest.
„Das ist wahr“, bestätigte sie, verwundert darüber, dass er es auch so empfand. „Und dennoch habe ich manchmal das Gefühl, dass ich nicht genug für Melanie tue. Sie verlangt ja nichts. Im Grunde genommen gibt sie mehr, als sie von uns zurückbekommen kann. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass Melanie eines Tages in eine ganz normale Schule gehen kann“, gestand sie. „Aber das wird noch eine ganze Weile dauern, bis sie soweit ist. Ich weiß auch nicht, ob es sinnvoll wäre, sie hier in der Grundschule anzumelden.“
„ Sie sollten Ihre Ängste begraben, und ein bisschen mehr Mut zeigen. Ihre Melanie muss man einfach gern haben, das werden auch ihre Mitschüler bald merken. Was macht Sie eigentlich so furchtsam?“
„ Das kann ich Ihnen nicht sagen. Warum eigentlich nicht?“, fragte sie gleich darauf kämpferisch. „Es ist eben leider so, dass nicht alle so denken wie Sie. Ich habe lange darunter gelitten, dass mein Mann uns verließ, als Melanie geboren wurde. Viel zu lange! Jetzt denke ich, dass es mir gut getan hätte, wenn ich schon viel eher mit jemandem darüber geredet hätte.“
„ Sie waren verheiratet?“, vergewisserte er sich.
„Nur sehr kurz. Ich habe sofort wieder meinen Mädchennamen angenommen, nachdem die Scheidung ausgesprochen war“, gestand sie. „Den Namen Gerstner wollte und konnte ich nicht mehr hören. Nach dieser schlimmen Erfahrung wollte ich nur noch für mein Kind da sein. Bei meinen Eltern fand ich zum Glück die nötige Unterstützung.“
„ Ihr Mann hat Sie verlassen, nachdem er erfahren hatte, dass sein Kind behindert ist“, folgerte Simon, als sie schwieg.
„Genauso war es. Mein Mann war ganz versessen darauf, endlich Vater zu werden. Er hat vor Freude geweint, als ich ihm gestand, dass ich endlich schwanger war. Von da an gab es kein anderes Thema mehr für uns als sein Wunschbaby, dem schon bald ein weiteres folgen sollte. Rainer hat es sich auch nicht nehmen lassen, bei der Geburt dabei zu sein. Ich werde den Augenblick nie vergessen, als er Melanie dann sah. Sein Gesicht war wie eine steinerne Maske. Seine Erstarrung wich erst, nachdem ihm der Arzt die Wahrheit über den Zustand unseres Kindes gesagt hatte. Er lief wie in Panik aus der Klinik weg.“
Simon nahm ihre Hand, mit der sie immer wieder nervös über den rauen Noppenstoff ihres Sessels strich. „Und dann ist Ihr Mann einfach fortgegangen?“, vergewisserte er sich, als sie stockte. Er konnte seinen inneren Groll kaum noch vor ihr verbergen.
„Nicht sofort. Rainer hat uns noch vom Krankenhaus abgeholt. Er hat sich extra Urlaub dafür genommen. Daheim in unserer Wohnung habe ich ihn immer wieder dabei beobachtet, wie er vor dem Stubenwagen stand und das Gesicht unseres Babys studierte. Ich war schon so sicher, dass er noch lernen würde, unser Kind zu lieben, obwohl es behindert war. Melanie brauchte uns doch beide, gerade weil sie so hilflos war. Das habe ich ihm auch alles gesagt, und er nickte nur. Und dann war er auf einmal nicht mehr da. Ich konnte es lange nicht begreifen, dass Rainer uns verlassen hatte, aber es war leider so. Später hat er mir dann geschrieben, dass er den Anblick seines Kindes nicht länger ertragen konnte. Er wollte die Scheidung, obwohl er mir hoch und heilig schwor, dass er nicht daran dachte, je wieder eine Bindung einzugehen. Rainer war felsenfest davon überzeugt, dass er nicht in der Lage ist, gesunde Kinder zu zeugen. Viel später erst habe ich erfahren, dass mein Mann noch einen Bruder hat, der ebenfalls ein mongoloides Kind hat. Allerdings in einer bedeutend schlimmeren Form als bei Melanie. Ich konnte es kaum glauben, dass Rainer die Verbindung zu seinem einzigen Bruder nur deshalb abgebrochen haben soll, weil er den Anblick seines Neffen nicht ertragen konnte. Kann ein Mensch wirklich so herzlos sein?“
Bittere Tränen liefen über ihre Wangen. „Ich glaube, es war gut, dass Sie sich einmal aussprechen konnten“, sagte er bewegt. „Es lohnt sich nicht, wenn Sie Ihrem Mann noch länger nachtrauern, er ist es nicht wert, Susanne. Mich erschüttert es immer wieder, wenn ich höre, wie gefühllos und grausam manche Menschen sein können. Sie sind tapfer. Ihre Melanie hätte sich gar keine bessere Mutti wünschen
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