Aus Licht gewoben
abgerissenen Ecke des Briefes. »Ist doch gar nicht so schlimm mit mir, oder? Ich kümmere mich um dich. Nicht wie deine Eltern. Die haben dich für ein paar Tropfen Regen verschenkt.«
Seine Worte waren gar nicht mehr an mich gerichtet. Mein Hals verengte sich, und ich schloss die Hand fest um den Brief. Nicht weinen, befahl ich mir. Nicht weinen, nicht weinen.
Genauso schnell, wie er gekommen war, war der Schmerz wieder verschwunden. Der neue, der an seine Stelle trat, war heiß und brannte wie Feuer. Die Tränen trockneten in meinen Augen, bevor sie meine Wangen erreichen konnten.
»Mit mir bist du besser dran, Syd«, sagte North. »Ich kümmere mich um dich und passe auf dich auf.«
»Also«, erwiderte ich und umschloss mit der Hand meine Kette. »Du solltest erst mal lernen, auf dich selbst aufzupassen, um mich brauchst du dir ab jetzt keine Sorgen mehr zu machen.«
»Was?« Er hob den Kopf. »Sei doch nicht dumm, Syd.«
Bevor er noch etwas sagen konnte, war ich schon aus dem Zimmer und die Treppe hinuntergerannt.
»Syd!«, rief er. Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, verstummte seine Stimme abrupt.
Ich hörte, wie die Tür wieder aufgestoßen wurde und ein paar schnelle Schritte mir folgten. Dann gab es einen lauten Knall und hinter mir bewegte sich nichts mehr. »Syd, nicht!«
Aber ich rannte nur noch schneller, an einer erschrockenen Mrs. Pemberly vorbei und nach draußen, wo der kalte Regen wieder eingesetzt hatte.
In einer sternenklaren Nacht wäre ich sicher schon auf halbem Wege zurück nach Cliffton gewesen, aber es regnete unauf- hörlich und so heftig, dass ich immer wieder stehen bleiben und mir die Hand über die Augen halten musste, um überhaupt die Straßenschilder lesen zu können. Verzweifelt und vollkommen außer Atem zwang ich mich weiterzulaufen.
Als ich anhielt, um nach Luft zu schnappen, lehnte ich mich gegen die Schräge einer Hauswand. Um mich herum heulte der Wind, als wäre er enttäuscht davon, wie schnell ich aufgegeben hatte. Ich war bis auf die Haut durchnässt, und meine eigensinnigen Haare klebten mir im Gesicht. Ich atmete noch einmal tief durch, um mich zu beruhigen. Je mehr ich
mich aufregte, desto schlimmer schien der Sturm zu werden. Ich verbarg das Gesicht in den Händen, denn ich brauchte ein paar Minuten, um meine Gedanken zu ordnen
Ich musste wieder zurück zu North. Es gab keine andere Wahl. Ich konnte noch so oft weglaufen, das änderte nichts an den Dingen, die in Cliffton vor sich gingen. Wohin lief ich schon? In die Arme der Soldaten? Auf ein Dorf zu, das vielleicht schon gar nicht mehr existierte?
Wenn ich die Augen schloss, konnte ich alles ganz deutlich vor mir sehen. Die Häuser aus Lehm, von der Sonne ausgebleicht, die Schatten der Gebirgsausläufer über dem Tal, die Berge, die bis in den Himmel ragten. All diese Dinge waren ein Teil von mir. So lange hatte ich von dem Tag geträumt, an dem ich endlich die Welt sehen würde, hatte mir aber nie vorstellen können, was mich dort erwartete. Lange Zeit hatte ich in den Bergen nur die Grenze gesehen, die mich von meiner Freiheit trennte, doch in Wahrheit hielten sie auch das Böse der Welt fern. Vor dem Regen waren die Zeiten schwer für uns gewesen, aber wir waren damit zurechtgekommen. Es hatte keine wütenden Menschenmengen gegeben, keine niederträchtigen Zauberer, keine betrunkenen Raufbolde. Nur Familien, die sich liebten.
Aber es hatte auch keine Hoffnung gegeben. Keine Träume, die mich dort hielten. Nur immer gleiche, wiederkehrende Tage und eine erstickende Vertrautheit.
Ich musste mich vor dem Sturm schützen.
Auf der gegenüberliegenden Seite hing ein kleines Schild mit der Aufschrift GEÖFFNET an einer großen Holztür. Es klapperte bei jedem Windstoß. Astraea sei Dank , dachte ich und wischte mir den Regen aus den Augen. Mit Mühe und Not bekam ich die Tür weit genug auf, um mich hindurchzuzwängen, dann schlug der Wind sie wieder hinter mir zu.
Ich brauchte eine Weile, bis ich erkannte, was für ein Geschäft ich betreten hatte. Vor einigen Stunden war ich in genau diesem Laden schon einmal gewesen, um den Glasbläser Mr. Monticelli mit Sand zu beliefern. Er war so in seine Arbeit vertieft gewesen, dass er nicht einmal den Kopf gehoben hatte, als ich den schweren Sandsack auf dem Boden abstellte.
Auch jetzt arbeitete er noch, blickte jedoch kurz hoch.
»Sie sind also zu mir zurückgekehrt«, stellte er mit fremdartigem Akzent fest. »Fürchterlicher Sturm heute,
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