Aus reiner Notwehr

Titel: Aus reiner Notwehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Young

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erweisen.”
    Wie in Trance konzentrierte Kate sich mit jeder Faser ihres Körpers auf die Bilder, die plötzlich vor ihren Augen aufblitzten. Sie sah das Wasser, das Kreisen der Möwen, das weite Blau des Himmels. Sie sah die blank polierten Beschläge der Kajüte, die blinkenden Armaturen der winzigen Kombüse – Dinge, die ein sechsjähriges Kind mit großen Augen in sich aufnahm.
    “Es gab einen furchtbaren Kampf!” Kate merkte nicht, dass sie gesprochen hatte. Die Worte brachen aus ihr heraus, als ihre Erinnerungen plötzlich mit der Gewalt eines riesigen Brechers zurückkehrten.
    “Ja. Wir befanden uns schon zu weit vom Land weg, als es geschah, und Hilfe konnte uns nicht erreichen.” Monoton fuhr Victoria mit ihrem Bericht fort. “John hatte getrunken, und genau wie Deke vertrug er nicht viel, wurde unter Alkoholeinfluss unberechenbar, neigte zu Aggressivität und Niedertracht. Es war später Nachmittag. Leo und Caroline hielten sich an Deck auf, ihr zwei machtet ein Schläfchen. Auf Johns besonderen Wunsch sollte es zum Abendessen Steaks mit Pommes Frites geben, von denen er nie genug bekommen konnte, und deshalb stand ein Topf mit siedendem Öl auf dem Herd in der Kombüse.
    Deine Einschulung stand in jenem Jahr bevor, Kate, und ich hatte die Absicht, mich dann nach einem Job umzusehen. Mein Gefühlsleben war zu diesem Zeitpunkt bereits dabei, langsam, aber sicher zu verdorren, und ich hoffte, ich könnte mich dem völligen Verrücktwerden entziehen, indem ich den Kontakt zu Menschen suchte und aufrechthielt, Menschen, die mich nicht so behandelten wie John. Da beging ich an dem Nachmittag auf der Yacht einen entscheidenden Fehler: Ich sagte es ihm. Ich hatte mir ausgerechnet, dass er mir in Gegenwart von Leo und Caroline diesen Wunsch nicht abschlagen konnte, mich anhören musste, mich vielleicht sogar verstehen würde.” Voll bitterer Ironie lachte sie auf. “Welch ein verhängnisvoller Irrtum! Er geriet vollkommen außer sich. Für ihn war die Ausübung eines Berufes gleichbedeutend mit meiner Unabhängigkeit, und das konnte ein John Madison unmöglich hinnehmen.”
    Sie drehte sich um, aber ihr Blick galt nicht Amber und Kate. Vor ihren Augen erschienen die handelnden Personen jenes Tages. “Er erklärte die Diskussion kurzerhand für beendet, doch trotzdem fing er fortwährend von Neuem davon an, mit Sticheleien, mit Seitenhieben. Schließlich hatte ich genug – wie du, Amber – und ich wies ihn zurecht. Da schlug er zu – mit dem Handrücken, kurz und hart, und die Wucht des Schlages katapultierte mich quer durch die Kabine.” Sie bedeckte für einen Moment mit zitternder Hand ihre Augen. “Natürlich kam mir Leo unverzüglich zu Hilfe; er war der Einzige an Bord, der dazu in der Lage war. Sie kämpften wie Bestien, stürzten, rangen, brüllten, keuchten, fluchten, versuchten, sich die Finger in die Augen zu stechen – es war entsetzlich. John war der größere der beiden und schier wahnsinnig vor Wut, ich befürchtete, er könnte Leo umbringen, und dann wäre niemand von uns seines Lebens sicher gewesen. Vom Deck hörte ich Caroline in Todesangst schreien. Ich wusste in diesem Chaos weder ein noch aus – und dann fiel mir der Revolver ein.”
    Der Revolver.
    “Im Schränkchen über der Spüle”, murmelte Kate, die nun ihre Mutter an jenem Tag deutlich vor Augen hatte, in aller Klarheit, ganz anders als in ihren Flashbacks.
    “Genau. Ich nahm ihn heraus.” Victoria holte tief Luft. “Aber ich traute mich nicht zu schießen. Sie rangen Mann gegen Mann, rollten auf dem Fußboden herum, ineinander verkeilt, verkrallt, auf Leben und Tod, ich hätte Leo treffen können.”
    “Und dann hielt mein Vater plötzlich etwas in der Hand …” Kates Gedanken wirbelten, vor ihrem geistigen Auge spielte sich die Szene ab, als hätte sie gestern erst stattgefunden. “Einen Gegenstand mit einem metallenen Griff …”
    “Eine Laterne. Die Notlaterne.”
    “Ja, und er holte aus, er schlug zu, er traf Leo am Kopf.”
    “Der Schlag raubte Leo die Besinnung”, fuhr Victoria fort. “John stürzte sich auf ihn und würgte ihn, und ich schrie und schrie, weinte, flehte ihn an, aber er lachte nur, schaute zu mir auf und würgte Leo beinahe zu Tode und lachte! Da drückte ich ab.”
    Ich habe es gesehen!
    Kate blinzelte, als sei sie gerade aus einem tiefen Traum aufgewacht. “Er wurde hier getroffen …” Sie wies mit dem Finger auf die Stelle, auf exakt den Punkt, wo das Geschoss auch bei Cody