Aus reiner Notwehr
hasst er mich!”, schrie Amber dazwischen.
“Wie bitte? Nick dich hassen? Er liebt dich doch!” Kate war nun völlig verblüfft.
“Nun nicht mehr!” Amber wischte sich mit einem Papiertaschentuch die Augen. “Es ist alles kaputt, nicht wahr, Victoria? Alles dahin! Endlich bot sich mir die Chance zu einem Neubeginn, zu dem Leben, das ich schon vor Jahren hätte haben können, aber nicht haben wollte, und jetzt stehe ich mit leeren Händen da! Nichts, nichts ist mir geblieben! Und alles nur wegen Deke!”
Kate blickte ihre Mutter verständnislos an. “Dürfte ich bitte erfahren, um was es hier geht?”
Victoria stemmte sich auf die Armlehne ihres Sessels und versuchte erfolglos, sich zu erheben. Kate eilte an ihre Seite. “Mutter, du übernimmst dich! Komm, ich bringe dich zu Bett!”
“Nein. Amber braucht mich jetzt.” Sie ließ sich in den Sessel zurücksinken, schloss die Augen und rang nach Luft. Kalter Schweiß überzog ihr totenbleiches Gesicht, und Kate fühlte automatisch nach ihrem Puls “Leg dich bitte hin, Mutter. Du klappst uns noch zusammen!”
“Es geht schon wieder. Einen kleinen Moment nur!”
“Alles meine Schuld!” Amber sprang unvermittelt auf und rannte aufgewühlt und händeringend hin und her. “Erst Daddy, jetzt Victoria! Alles mache ich falsch! Was ich auch anfasse, es geht schief!”
Kate kam sich vor wie ein Theaterbesucher, der die ersten zwei Akte einer Tragödie versäumt hat und nun einer undurchsichtigen Handlung zu folgen versucht, der aber genau spürt, dass die Katastrophe in der Luft liegt, und ein beklemmendes Gefühl des Grauens beschlich sie und drängte sich in ihr pochendes Herz. Gefasst fragte sie ihre Mutter ein zweites Mal. “Was ist hier los?”
“Du verstehst das sowieso nicht!”, schrie Amber. “Nie im Leben kapierst du das! Dir könnte dergleichen nämlich nie passieren!” Unverhüllte Abneigung schwang plötzlich in ihrer Stimme mit. “Dir gelingt ja immer alles! Du bist ja so diszipliniert! Ja, viel zu clever, viel zu intelligent, als dass du in eine Situation geraten könntest, die dir … die dir über den Kopf wächst!”
“Sprechen wir jetzt über deine Ehe mit Deke?”
“Über was denn sonst?” Verbittert wandte Amber sich von ihr ab.
“Und über die Folgen”, fügte Victoria tonlos hinzu.
“Großer Gott!” Kate hielt sich an der Stuhllehne fest. “Hast du ihn umgebracht, Amber? Geht es darum?”
“Nein!” Amber blieb stehen und schlang die Arme um den Oberkörper. “Ich wollte ihn umbringen! Hätte ich es nur getan! Für uns alle wäre es doch eine Erlösung gewesen! Leider habe ich es versäumt. Aber darum geht es nicht.” Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. “Nein, es ist viel, viel schlimmer!”
“Ja, was in aller Welt könnte denn noch schlimmer sein?”
“Stephen!” Wie der Ton einer Sirene schwoll ihre Stimme zu einem schrillen Crescendo an. “Stephen! Was habe ich bloß getan?”
“Was? Stephen hat ihn getötet?” Kate hatte noch immer nicht begriffen.
“Nein!”, rief Victoria ungeduldig. “Natürlich nicht!”
Amber sank in einen Sessel. “Doch! Oh Gott, ich glaube, er war es doch! Und ich habe ihn dazu getrieben! Es kann nicht anders sein!”
“Absurd!”, stieß Victoria hervor. “Der Junge erschießt doch nicht seinen eigenen Vater und macht danach in aller Seelenruhe sauber! So laufen Taten im Affekt nicht ab. Man liest doch in der Zeitung, wie es geht: Ein Teenager bringt seine Eltern um, ruft in Tränen aufgelöst die Polizei an und gesteht sofort. Nein, nein, Stephen war genau da, wo er nach seiner Aussage auch sein musste, nämlich im Bett, und Leo schlief gleich gegenüber.” Die Worte gingen deutlich an ihre Substanz, doch unbeugsame Willenskraft hielt sie im Sessel aufrecht.
Kates Gedanken überschlugen sich, aber sie zwang sich zur Ruhe, schritt bewusst langsam im Zimmer auf und ab, dachte nach, während sie bedächtig sprach. “Amber, willst du etwa andeuten, dass er Deke tatsächlich wegen der Handgreiflichkeiten erschossen hat? Kein Junge erträgt es, wenn die Stiefmutter, die er abgöttisch verehrt, vom Vater permanent drangsaliert wird. Aber Mord? Und welche Rolle sollte Nick dabei spielen? Fälle wie dieser sind Nicks tägliches Brot, weitaus schlimmere sogar, vermute ich! Warum also sollte er dich verabscheuen, wenn du für den Jungen eintrittst?”
“Kate, du kapierst es wirklich nicht.” Amber schloss die Augen und schüttelte in einer Geste der
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