Aus reiner Notwehr
halbwüchsige Stiefsohn als Bodyguard, als Leibwächter? Früher wäre Kate dieser Tatsache und der Schärfe in ihrer Stimme auf den Grund gegangen. Zorn? Bitterkeit? Aber sie verspürte keine Lust, es anzusprechen. Sie hatte momentan mit eigenen Quälgeistern alle Hände voll zu tun. “Leo wird sich freuen. Er mag euch beide sehr.”
“Möglich. Jedenfalls, wir zwei werden ‘ne Menge unternehmen, ja? Lass dir nicht zu viel aufs Auge drücken, wir haben einiges nachzuholen!”
“Schon zu spät. Ich springe ein bisschen für Leo in der Praxis ein. Das Nichtstun ist nicht mein Ding.”
“Was? Also wirklich, Kate! Du hast es ja noch gar nicht probiert!” Amber war völlig überrascht. “Hat Daddy dich etwa genötigt? Das sähe ihm ähnlich! Der geht bis zur Erpressung, nur um dich in seine Praxis zu lotsen.” Sie brummte beleidigt. “Er hat für dich sowieso immer mehr übriggehabt.”
Kate lächelte ironisch. “Aber klar!”
“Ehrlich!” Amber zog einen Schmollmund. “Damals, als die Yacht unterging, weißt du noch? Später habe ich mich oft gefragt, ob sie uns zwei bei der Rettung nicht verwechselt haben, sodass Leo dein Vater und Victoria meine Mutter wurde.”
Es mochte an Kates überreiztem Gemütszustand liegen, dass ihr die Bemerkung der Freundin fast plausibel vorkam. Leo hatte in der Tat beim Erreichen wichtiger Abschnitte in ihrem Leben eine bedeutende Rolle gespielt, und andererseits hatte immer ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen ihrer Mutter und Amber bestanden. Sie lehnte sich lächelnd an einen Pfeiler. “Für solche Absurditäten bin ich jetzt zu müde. Immerhin waren wir schon sechs und keine Babys mehr. Ich sehe nach Mutter.” Sie nahm ihre Sportsachen.
Amber eilte ein paar Stufen der Treppe hinunter, hielt aber plötzlich inne und wandte sich um. “Stopp, jetzt hab ich’s! Es ist Sam Delacourt, stimmt’s?”
“Sam Delacourt? Was redest du da?”
“Er arbeitet in Daddys Gemeinschaftspraxis. Deshalb hast du also die Lichter der Großstadt für die alte Heimat über Bord geworfen, was?”
Kate hatte die Hand auf der Türklinke. “Von Sam hatte ich keine Ahnung. Mit meinem Entschluss hat er nichts zu tun.”
“Weiß eigentlich noch jemand außer mir von eurem Techtelmechtel?”
Kate seufzte. “Das ist
ewig
her, Amber.”
“Mag sein. Aber das Anhängsel, die Ehegattin, die ist ja nun tot.” Amber wackelte anzüglich mit den Augenbrauen, wie Groucho von den Marx Brothers.
“Ach, Amber, warum habe ich dir bloß davon erzählt?”
“Weil wir uns damals
alles
gesagt haben.
Fast
alles!”
“Na, dann weiß ich ja jetzt Bescheid!”
Amber kicherte noch in sich hinein, als Kate längst die Tür hinter sich geschlossen hatte.
9. KAPITEL
I hre Mutter saß im Wintergarten, rauchte eine Zigarette und las. “Du hast Amber gerade verpasst”, sagte sie und schaute von ihrem Buch auf. Kate stellte ihre Tasche ab. “Ich habe sie noch draußen vor der Tür getroffen. Mutter, du solltest das Rauchen lassen.”
Mit einem Seufzer drückte Victoria ihre Zigarette aus, legte das Buch zur Seite, nahm ihre Brille ab und rieb sich die Augen. “Meine Sehkraft war auch schon mal besser. Das Lesen macht einfach keinen Spaß mehr, wenn man so verschwommen sieht.”
Kate ließ die Zigaretten widerstrebend auf dem Tisch liegen, schenkte sich ein Glas Wasser ein und trank es halb aus. “Vielleicht brauchst du eine neue Brille. Seit wann hast du diese?”
“Ach, ein, zwei Jahre, was weiß ich!” Sie zuckte die Schultern. “Du siehst etwas nervös aus. Wie war das Laufen?”
“Mutter, ich muss mit dir reden.”
Victoria stieß einen Seufzer aus. “Wenn es nicht über das Rauchen oder diesen schrecklichen Krebs ist, nur zu! Das ist ja gerade das Schöne daran, dass du auf unbestimmte Zeit hier bist – wir können in aller Ruhe Neuigkeiten austauschen. Erzähl mir von Robert! Hat er diese dumme Gans geheiratet? Ich will hoffen, dass dir seine Seitensprünge nichts ausgemacht haben! Er gehört zu der Sorte Männer, die mit nichts zufrieden sind. Immer auf der Suche nach noch besseren Jagdgründen!”
Kate hielt sich kurz das kalte Glas an die Stirn. Ihre Mutter lehnte es ab, über ihren Zustand zu reden, und ebenso wenig hatte sie selbst die Absicht, sich in öden Einzelheiten ihrer gescheiterten Ehe und der Scheidung zu ergehen. Pattsituation. Je mehr sich die Dinge änderten, desto mehr schien alles gleich zu bleiben.
“Du wirst es nicht glauben, Mutter, aber Roberts
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