Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
Französischkenntnisse das Angebot machte, im August, wenn an der Grenze zu Frankreich viel Betrieb war, die Ortspolizei von Puigcerdà zu verstärken, was ihm die Möglichkeit eines kleinen Zuverdienstes gab. Dort bezogen wir einige Zimmer in einem Haus, in dessen Garten es einen Teich mit Fischen gab. Als meine Eltern einmal nicht achtgaben, bin ich kopfüber hineingefallen und habe nicht nur Wasser geschluckt, sondern auch das Bewusstsein verloren. Meine Mutter, die mich Sekunden später fand, hat, weil sie merkte, dass ich nicht mehr atmete, instinktiv eine Mund-zu-Mund-Beatmung gemacht und mich auf diese Weise gerettet.
Mein Vater war wirklich ein guter Mensch. Er zeichnete sich durch Takt und Verschwiegenheit, Duldsamkeit und Klugheit aus. Wenn es galt, Entscheidungen zu treffen, war er allerdings mitunter übervorsichtig. Meine Mutter hingegen war äußerst entschlossen und tatkräftig. Sie sprühte vor Unternehmungsgeist, war energisch, vital und wagemutig. Die beiden ergänzten einander unübersehbar. Mit ihrem überschäumenden und nicht zu zügelnden Wesen war meine Mutter gleichsam der Motor der Familie. Damit will ich nicht den Eindruck erwecken, als sei mein Vater für uns unbedeutend gewesen, ganz im Gegenteil: Er hat es verstanden, uns Grundsätze und Werte zu vermitteln, die ein unveräußerlicher Teil seines Wesens und Weltverständnisses waren. Gewiss, er besaß keinen Wagemut, doch darf man ihm deshalb keinesfalls Mangel an Begeisterung unterstellen. Wenn er mit leuchtenden Augen über seine Heimat, die Musik und den Fußballverein Barça sprach, sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. Ich habe ihm immer gern beim Schreiben zugesehen, denn seine Handschrift war wie gestochen. Außerdem habe ich ihm gern zugehört, wenn er Geschichten erzählte. An der Art, wie er das tat, war zu merken, dass an ihm ein wirklich guter Lehrer verloren gegangen war.
In den Jahren unmittelbar nach dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs eine Familie durchzubringen, zu einer Zeit, als es nichts gab, und noch dazu als Angehöriger der Verliererseite, war eine schwierige und mühselige Aufgabe. Im Haus der Familie Carreras an der Calle Galileo lebten außer dem Sohn Albert auch noch die Eltern der Mutter. Zusätzlich zum Gehalt der beiden Männer flossen schon bald Einnahmen aus dem Friseursalon in die Haushaltskasse. Im Sommer des Jahres 1942 kam mit María Antònia ein weiteres Familienmitglied zur Welt, und schließlich am 5. Dezember 1946 der kleine Josep, der später als José auf der ganzen Welt bekannt werden sollte. Wie in vielen anderen Häusern auch war der Bürgerkrieg ein ständiges Gesprächsthema. Vor allem der Großvater, Salvador Coll, der der katalanischen Linkspartei Esquarra Republicana nahestand, berichtete Episoden aus der Vergangenheit, klagte über die von den Anarchisten begangenen Fehler, die geringe Unterstützung der Spanischen Republik durch die Völkergemeinschaft sowie die unnachsichtige Unterdrückung der Katalanen durch Franco. Ohne Ämter bekleidet zu haben oder Aktivist gewesen zu sein, hatte er sich mit Nachdruck für die Verteidigung der rechtmäßigen Regierung eingesetzt und musste wie so viele andere nach Kriegsende um sein Leben fürchten, sodass er schließlich – aus Sorge, man werde ihn in seiner Wohnung suchen – nachts auf einem Stuhl auf der Plaza de Catalunya schlief.
Die früheste Erinnerung von José Carreras ist die an eine wohlbehütete Kindheit. Er sieht sich, wie er mit drei oder vier Jahren, die Bücher seines neun Jahre älteren Bruders Albert unter dem Arm, den Eltern erklärt, er werde jetzt zur Schule gehen. In einer anderen frühen Erinnerung sieht er sich mit fünf Jahren an Bord eines Schiffes nach Südamerika. Da in Spanien auch im Jahre 1951 noch Not und Elend herrschten, viele Lebensmittel rationiert waren und die Menschen in ihrer Freiheit eingeschränkt wurden, hatte die Familie Carreras beschlossen, ihr Glück in Argentinien zu versuchen, wo der einige Jahre zuvor ausgewanderte Bruder der Mutter als Werkzeugmacher und Dreher in Buenos Aires gut verdiente.
Ich habe eine Vorstellung von der Cabo de Hornos. Zwar erinnere ich mich nicht an das Auslaufen unseres Schiffs aus dem Hafen von Barcelona, habe aber Bilder der Orte vor Augen, an denen es unterwegs
angelegt hat: Cartagena, Cádiz, Santa Cruz auf Teneriffa, Dakar, São Paulo, Montevideo … Ich stelle mir auch vor, wie ich einer Gruppe von Damen etwas vortanze und vorsinge, die über meine
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