Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
Rosario, Corrientes
und Resistencia anlegte. Nach sechs Tagen erreichten sie die Grenze zu Paraguay. Es erwies sich alles andere als einfach, dort ein Einreisevisum zu bekommen, aber schließlich erbarmte sich der Kapitän und verhandelte mit den Behörden. Bis alles geregelt war, verbrachten sie eine unruhige Nacht am argentinischen Ufer des Flusses.
Asunción kam ihnen wie eine spanische Stadt vor, in der die Zeit hundert Jahre lang stehen geblieben war: Die Straßen waren nicht asphaltiert, die Häuser bröckelige Gemäuer, und mitten in der Stadt ritten Menschen auf Maultieren. Die Kontaktperson erwies sich als frühere Kundin des Friseursalons in Barcelona. Sie und ihr Mann hatten alle gemeinsamen Ersparnisse in die Überfahrt gesteckt und konnten nicht zurückkehren, obwohl sie unter kläglichen Bedingungen lebten und ihre Zukunftsaussichten alles andere als vielversprechend waren. Darüber hatten sie in ihren Briefen nichts geschrieben, zweifellos, um sich selbst gegenüber die Entscheidung zu rechtfertigen, trotz aller Geldsorgen und sonstigen Nöte dort zu bleiben. So beschlossen die Eltern Carreras nach einer auf Notbetten verbrachten Nacht, nach Buenos Aires zurückzukehren, die Kinder bei den Verwandten unterzubringen und selbst in eine Pension zu ziehen. Die Mutter fand schon bald Arbeit in einem Friseursalon in der Stadtmitte, dessen Besitzer, ein Katalane, rasch merkte, dass sie eine erfahrene Fachkraft war. Etwas später bekam der Vater eine Anstellung als Verkäufer in einem Kaufhaus.
Bereits mit vierzig Jahren hatte mein Vater graue Haare. Man gab ihm Arbeit als Verkäufer in der Hemdenabteilung eines Kaufhauses in der Stadtmitte von Buenos Aires, verlangte aber, dass er sich die Haare färbte, damit er nicht zu alt aussah – andernfalls hätte er diese Stelle nicht bekommen. Meine Mutter wurde in einem bekannten Friseursalon der argentinischen Hauptstadt eingestellt, und sogar mein Bruder Albert verdiente mit seinen vierzehn Jahren schon etwas Geld in einem Möbelgeschäft. Wir mieteten ein einstöckiges Haus in der Gemeinde José León Suárez, was eine Fahrt von nahezu zwei Stunden zur Arbeit in der Stadt bedeutete. Das Haus hatte eine große Diele, drei Schlafräume, eine sehr schöne
Veranda und nach hinten hinaus einen kleinen Hof. Meine Schwester und ich blieben zu Hause, während die Eltern und der Bruder zur Arbeit gingen. Wenn mein Vater abends zurückkam, unterrichtete er uns. Auch mein Großvater tat das, der uns häufig von Buenos Aires aus besuchte. Er hatte sich alles Wissen selbst beigebracht, denn er war nicht lange zur Schule gegangen, weil er schon mit acht oder neun Jahren angefangen hatte, in einer Textilfirma zu arbeiten. Er las alles, was ihm in die Hände fiel, und begeisterte sich schließlich sogar für das Schreiben. Bis zum Ende seines Lebens hatte er einige pikante Theaterstücke und rund zwei Dutzend, teils politische, Romane verfasst, von denen einige sehr interessant waren, doch ist es ihm nie gelungen, etwas zu veröffentlichen. Er hat sogar einen religiösen Essay geschrieben. Ich erinnere mich an einen Text mit dem Titel »Wahrheiten eines Narren«, in dem es um die Beziehung zwischen der Lehre Christi und der kommunistischen Doktrin ging. Mein Großvater war eine eindrucksvolle Persönlichkeit und versuchte sich übrigens mit seiner Baritonstimme auch als Amateursänger. Nach unserer Rückkehr nach Barcelona – ich war inzwischen sieben Jahre alt – hat er mich zum Conservatorio Municipal de Música in der Calle Bruc begleitet.
Nach einer Weile hat meine Mutter in der großen Diele des Hauses in José León Suárez einen Friseursalon eröffnet. Mein Bruder Albert, der gut zeichnen konnte, hat dafür ein prächtiges Reklameschild gemalt, und schon bald darauf brauchte sich meine Mutter über Mangel an Kundschaft nicht zu beklagen. Die damals schlechter als Villa Ballester erschlossene Gemeinde José León Suárez ist inzwischen ein Vorort der argentinischen Hauptstadt. Als ich fünfunddreißig Jahre später zusammen mit Agnes Baltsa ein Konzert in Buenos Aires gab, wollte ich die Orte meiner Kindheit besuchen, denn ich hatte den Wunsch, wiederzusehen, was mir damals so vertraut war und seither aus meinem Gedächtnis verschwunden ist. Mein Vetter Josep Coll war so liebenswürdig, mich dabei zu begleiten. Später bin ich noch einmal dorthin zurückgekehrt,
so als wollte ich etwas von dem Kind zurückholen, das ich damals war und das nichts von der Mühsal
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