Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
unseres Lebens dort mitbekommen hatte.
Eines Tages im April 1952 erklärte der Großvater, er werde nach Spanien zurückkehren, weil seine Beurlaubung bei der Verwaltung der Stadt Barcelona ablief. Zwar hatte sein Entschluss damit zu tun, dass Argentinien alles andere als ein Paradies war und man es dort nur mit äußerster Mühe zu etwas bringen konnte, doch Barcelona war einfach seine Heimat. Als er Tochter und Schwiegersohn diese Entscheidung mitteilte, versuchten sie nicht, ihn davon abzubringen. Josep Carreras Soler, dessen Beurlaubung als Stadtpolizist zwei Monate später ebenfalls ablaufen würde, nannte sie im Gegenteil klug und erklärte, er werde sich anschließen. Auch wenn man im Kaufhaus seine Fähigkeiten als Verkäufer anerkannte und der Kundenkreis des Friseursalons immer mehr anwuchs, war das nicht unbedingt die Zukunft, die er sich für seine Familie vorgestellt hatte. Zu seiner Frau sagte er, früher oder später werde sich die Lage in Spanien zweifellos bessern, weshalb es vernünftig sei, dorthin zurückzugehen. Tatsächlich hörte kurz nach der Rückkehr der Familie die Rationierung von Lebensmitteln auf, als Folge der Unterzeichnung von Verträgen mit den USA gelangten wieder Waren ins Land, deren Existenz die Spanier inzwischen vergessen hatten, und das Regime machte Schluss mit der systematischen Erschießung seiner Gegner. Niemand in der Familie widersetzte sich der Entscheidung zur Rückkehr, ganz im Gegenteil: Alle waren darüber erleichtert.
Die Rückfahrt verlief ruhig, allerdings ohne den Luxus der Hinreise. Nahezu elf Monate nach ihrem Aufbruch kehrte die Familie Carreras auf demselben Schiff und mit dem Gefühl, eine Art Niederlage erlitten zu haben, an ihren Ausgangspunkt zurück. Ende Mai legte die Cabo de Hornos mit über 800 Personen an Bord im Hafen von Barcelona an. Das Abenteuer Südamerika war zu Ende. Erneut zog die Familie in den Stadtteil Sants. Dort wohnten sie einige Wochen bei einer Cousine der Mutter, bis sie ganz in der Nähe ein Haus in der Calle San Cristo mieten konnten, hundert Meter von ihrem früheren in der Calle Galileo entfernt. Schon einen Tag nach dem Einzug hatte Antònia Coll ihre Stühle und Trockenhauben mitsamt den
Spiegeln dort hingeschafft, und ein Waschbecken war angebracht worden, damit sie ihren Kundinnen die Haare waschen konnte. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Neuigkeit »Antonieta ist wieder da« im Viertel. Josep Carreras Soler konnte seine Tätigkeit bei der Stadtpolizei ohne die geringsten Schwierigkeiten wieder aufnehmen. An Arbeit fehlte es zu jener Zeit wahrlich nicht, denn Kataloniens Hauptstadt bereitete sich gerade auf die Ausrichtung des Eucharistischen Weltkongresses vor. Das Franco-Regime wollte der Isolierung Spaniens entgegenwirken und die Anerkennung durch die westlichen Demokratien erringen, weshalb es sich um dies bedeutende Ereignis bemüht hatte. Es war vorgesehen, dass Kardinal Tedeschini, der Abgesandte Papst Pius’ XII., den man am Hafen empfangen hatte, als sei er der Heilige Vater selbst, bei der Abschlussveranstaltung auf der Prachtstraße Avenida de la Diagonal, die damals Avenida Franco hieß, eine Messe unter freiem Himmel zelebrieren sollte, an der auch der Diktator teilzunehmen gedachte.
Die erste Schule, die ich besucht habe, das Instituto Montserrat, lag unserem Haus genau gegenüber. Noch immer besitze ich einige Fotos aus diesen Jahren, die mich im längs gestreiften Schülerkittel vor der politischen Karte Spaniens zeigen. Vor allem aber besitze ich noch eine Handvoll Erinnerungen sowie die Freundschaft einiger meiner Schulkameraden. Mit ihnen treffe ich mich einmal im Monat in einem Lokal in der Calle Galileo zu einem ausgedehnten Frühstück, wobei wir über Gott und die Welt reden.
Auch wenn ich nicht das war, was man einen guten Schüler nennt, bin ich gern zur Schule gegangen. Auf dem Pausenhof habe ich angefangen, Basketball zu spielen, und das gar nicht einmal schlecht, obwohl ich nicht besonders groß war. Gleich nach Schulschluss haben wir auf dem Vorplatz der nahen Kirche oder auf der Straße, wo so gut wie kein Verkehr herrschte, Fußball gespielt, wobei wir die Torpfosten mit Schulbüchern markierten.
Ich war noch keine sieben Jahre alt, als man mich ins Vorstadtkino Gayarre mitnahm, das man nach dem navarresischen Tenor Julián Gayarre benannt hatte – für ein Kind der Nachkriegsjahre
eine der wenigen Möglichkeiten zur Zerstreuung. Gezeigt wurde Der große Caruso von Richard
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