Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
Seite von Katia Ricciarelli, die den Wettbewerb im Jahr zuvor gewonnen hatte. Das Publikum war von unserer Leistung so verzaubert, dass man mich einlud, auch in Ein Maskenball zu singen, mit dem die nächste Spielzeit eröffnet wurde. Bei der Kritik wie beim Publikum verursachte es allerdings erheblichen Aufruhr, dass man bei der Besetzung nur einen einzigen Italiener berücksichtigt hatte, in diesem Fall den Bariton Piero Cappuccilli, während die bis dahin unbekannte bulgarische Sängerin Ghena Dimitrova die Amelia sang und ich den Riccardo. In einem Pressekommentar hieß es sogar, es gebe zehn für die Rolle des Riccardo geeignete Tenöre, da brauche man nun wirklich nicht auf einen wenig erfahrenen jungen Spanier zurückzugreifen. Wegen der Proteste begann die Aufführung mit Verspätung, was mich allerdings in keiner Weise einschüchterte, sondern eher dazu anspornte, alles zu geben. Nach meiner Auftrittsarie gab es herzlichen Beifall und Bravorufe, sodass ich annehmen durfte, die erste Schlacht gewonnen zu haben. Zum Schluss war das Publikum von
den Sitzen gesprungen, und wir mussten mehrfach vor den Vorhang treten. Die Polemik im Vorfeld wurde zu einer bloßen Fußnote der Operngeschichte.
Das Jahr, in dem Carreras in Busseto den Wettbewerb Voci Verdiane gewann, brachte für ihn eine Reihe von Auftritten in Barcelona, auf Menorca und Teneriffa sowie in Madrid, wo er im Teatro de la Zarzuela in einem Werk zu sehen war, das wohl niemand mit ihm in Verbindung bringen würde, nämlich dem Singspiel Maruxa von Amadeo Vives, noch dazu in der Rolle des Antonio, der nicht einmal die Hauptfigur ist. Erst drei Jahre später kam er wieder nach Madrid, und zwar an der Seite Montserrat Caballés, die in Adriana Lecouvreur von Cilea die Titelrolle sang. Außerdem hatte er Gelegenheit, in Prag den Alfredo in Verdis La Traviata zu singen. Es war das erste Mal, dass er in einem Land hinter dem Eisernen Vorhang auftrat. Unverhofft bot sich ihm kaum einen Monat, nachdem er in Busseto gewonnen hatte, die Gelegenheit, im Liceu von Barcelona in Verdis Rigoletto aufzutreten. Die Spielzeit war am 11. November mit diesem Werk eröffnet worden, wobei der berühmte Tenor Carlo Bergonzi den Herzog von Mantua gesungen hatte, und schon zwei Tage später sollte eine weitere Verdi-Oper gespielt werden, nämlich Die Macht des Schicksals mit Pedro Lavirgen als Alvaro. Da dieser kurz vor der Premiere erkrankte und es damals in Barcelona nicht üblich war, eine zweite Besetzung für die Hauptdarsteller parat zu haben, fragte der Direktor Pàmias Bergonzi, ob er diese Rolle übernehmen könne. Bergonzi erklärte sich zwar großzügigerweise dazu bereit, doch konnte er in dem Fall unmöglich gleich am nächsten Abend in Rigoletto singen. Daraufhin ließ Pàmias bei Carreras, der sich gerade in Barcelona befand, anfragen, ob er die Rolle des Herzogs von Mantua übernehmen könne. Carreras war hocherfreut: Endlich würde er seine Lieblingsarie »La donna è mobile« auf der Bühne singen können, die er bereits als Junge im Radio vorgetragen hatte. Es blieb nur wenig Zeit, und die Kostümproben wurden in aller Eile absolviert. Zwar schrieb der Kritiker Gilbert Price, Carreras sehe viel zu gutmütig aus, als dass er den zynischen Herzog glaubwürdig verkörpern könne, bescheinigte ihm aber großes Talent.
Zwischen 1972 und 1973 hatte José Carreras so viele Engagements, dass in seinem schwindelerregend gefüllten Terminkalender praktisch kein Tag frei blieb. Trotzdem fiel es ihm schwer, Angebote für Auftritte in bedeutenden Opernhäusern abzulehnen. So kam es, dass er in weniger als einem Jahr in vielen Städten auf der ganzen Welt in konzertanten oder szenischen Darbietungen von einem Dutzend Opern sang: von Verdi I Lombardi (Die Lombarden), Rigoletto , Luisa Miller , Don Carlos , von Donizetti Maria Stuart, Lucia di Lammermoor und Der Liebestrank sowie von Puccini Madame Butterfly, Tosca und La Bohème , außerdem Cileas Adriana Lecouvreur und Arrigo Boitos Mephistopheles . Aber er war nicht nur als Sänger gefragt, sondern auch als Person. Schon bald merkte er, dass man von einem bewunderten Tenor die Teilnahme an Abendgesellschaften, Feiern und Ähnlichem erwartete. Der Ruhm brachte es mit sich, dass er nicht mehr unumschränkt Herr seiner Zeit war, sondern für Honoratioren, Sponsoren und Journalisten da zu sein hatte, die nicht immer fachkundig waren. Da es sich dabei um eine Art gesellschaftlicher »Maut« handelte, die er zu entrichten
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