Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
versucht, es ebenso zu machen, wenn sie gelegentlich nicht hundertprozentig auf der Höhe war. Anders gesagt: Zwischen uns hat ein Vierteljahrhundert lang eine wunderbare Beziehung bestanden.« Die Förderung durch eine der wichtigsten Sopranistinnen bedeutete für einen Anfänger eine nachhaltige Beschleunigung der Karriere, doch ohne das nötige Talent hätte ihm das in seinen Anfängen kaum etwas genützt.
Montserrat beeindruckte auf der Bühne alle um sie herum. Sie konnte herzlich und umgänglich sein, aber auch unerbittlich, wenn ihr, aus welchem Grund auch immer, etwas misslang. Wenn nicht alles so abläuft, wie man es sich erhofft, wird in der Welt der Oper gelegentlich jemand auf der Bühne von einem Augenblick auf den anderen nervös, sei es bei der Probe, sei es bei einem Auftritt. Wenn die Sopranistin der Ansicht war, jemand stelle sich den Problemen nicht, konnte sie, wie soll ich sagen … sehr bestimmend sein. Ich
habe erlebt, wie sie bei einer Probe mit Chor und Orchester der Mailänder Scala unter der Regie von Franco Zeffirelli mit einem Mal aufhörte zu singen, weil mit den Stufen einer Treppe, über die sie gehen musste, irgendetwas nicht in Ordnung war, und dann ausrief: »Questo è un teatro di merda!« (Was für ein Scheißtheater), und sogleich waren alle mucksmäuschenstill, denn wenn sie wütend wurde, war sie wie ein Vulkan und konnte furchtbar sein.
Mich hat sie jederzeit nachhaltig unterstützt und mir anfangs auch technische Ratschläge gegeben, vor allem, was die Atmung betrifft, insbesondere die Zwerchfellatmung und die Atemstütze, Dinge, die für einen Sänger von grundlegender Bedeutung sind. Sie hat mir erklärt, wie man bei einer Arie die Luft so dosiert einsetzt, dass man möglichst wenig davon verbraucht. Dafür muss man in die Tiefe atmen, denn für einen Sänger gibt es nichts Ungünstigeres als die sogenannte Schulter- oder Schlüsselbeinatmung, bei der trotz großem Energieeinsatz kaum Luft bewegt wird. Bei der Zwerchfellatmung hingegen dehnt sich unter Anspannung des Zwerchfells die Lunge, sodass deren unteres Drittel besonders gut mit Luft versorgt wird, was einen guten Stimmansatz ermöglicht.
Carlos Caballé, der Bruder und Manager der Sängerin, war viele Jahre hindurch auch als Agent für José Carreras tätig, was es dem Tenor wie der Sopranistin erleichterte, gemeinsam aufzutreten. In einem Interview mit dem katalanischen Journalisten Marcel Gorgori hat Montserrat Caballé erklärt, sie habe José Carreras stets wie einen jüngeren Bruder betrachtet. Dann kam sie von der persönlichen auf die berufliche Beziehung zu sprechen und sagte: »Mit José zu singen ist ein Vergnügen, es ist wunderbar, und das kann auch gar nicht anders sein, denn er ist vielleicht einer der besten Tenöre, mit denen ich im Laufe meiner Karriere gesungen habe …« Carreras äußerte sich ähnlich über sie, indem er erklärte, sie sei eine Frau, deren Zauber er sich auf der Bühne nicht entziehen könne: »Wenn ich mit ihr zusammen singe, bin ich als Mann verloren: Ich verliebe mich auf der Stelle in sie.« Er war stets der Ansicht, dass nur ganz wenige Primadonnen die Fähigkeit besitzen, sich in die Person zu verwandeln, die sie auf der Bühne darstellen.
Wenn ihn ein Journalist fragte, wie ein so ungleiches Liebespaar auf der Bühne glaubwürdig wirken könne, vor allem in den ersten Jahren, als er noch ein junger Sänger und sie schon eine mütterlich wirkende reife Frau war, gab er zur Antwort, dass er sich auf der Bühne der musikalischen und interpretatorischen Vitalität der katalanischen Sopranistin untergeordnet habe. Damit werde für das Publikum ebenso eine Gleichheit hergestellt wie für die Darsteller.
Montserrats Stimme ist ausgezeichnet und ihre Technik einzigartig, vor allem, wenn es um Rollen aus dem Belcanto-Repertoire geht. Mit Bezug auf die Interpretation war ihr Maria Callas möglicherweise leicht überlegen, doch auf keinen Fall bei der Qualität der Stimme. Außerdem ist sie unglaublich wandlungsfähig, denn immerhin hat sie von der Isolde in Wagners Tristan und Isolde bis zur Rosina in Rossinis Barbier von Sevilla alles gesungen. Im Laufe ihrer Karriere hat sie bestimmt in hundertfünfzig verschiedenen Opern mitgewirkt, etwas, das nur ganz wenigen außergewöhnlichen Gesangskünstlern möglich ist. Wenn man all das zusammennimmt, wird deutlich, dass sie eine der bedeutendsten Sopranistinnen der Operngeschichte ist.
Zu den Opern, in denen wir am häufigsten
Weitere Kostenlose Bücher