Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
gesungen, und jedes Mal wenn ich im Auto über eine der Brücken fahre und die Skyline von Manhattan vor mir sehe, durchflutet mich ein ganz eigenartiges Gefühl. Wann immer ich dort ankomme, erinnere ich mich mit derselben Lebhaftigkeit des Tages, an dem ich zum ersten Mal durch die Straßen dieser Stadt gegangen bin. Dann denke ich, dass es sich um eine einzigartige Metropole handelt, die mir umso mehr gefällt, je besser ich sie kennenlerne.
Im Jahr 1974 trat José Carreras zum ersten Mal in einer anderen der Städte auf, die seinem Herzen am nächsten sind, nämlich Wien, und zwar in der Staatsoper, einem Haus mit äußerst sachkundigem Publikum. Dort durchlebte er einen der beängstigendsten Augenblicke seiner Laufbahn, und das in seiner Lieblingsoper Rigoletto . Ausgerechnet auf ihrem Höhepunkt, als der Herzog von Mantua das von Carreras schon Hunderte von Malen gesungene »La donna è mobile« anzustimmen hatte, versagte seine Stimme. Bei einem solchen Missgeschick, das einem Sänger vielleicht zwei- oder dreimal im Leben widerfährt, möchte er sich am liebsten in Luft auflösen, um schnellstens von der Bühne zu verschwinden.
Es war eine entsetzliche Situation, denn in »La donna è mobile« brachte ich den hohen Ton am Schluss nicht heraus. Im Opernhaus San Carlo von Neapel hätten mich die Zuschauer ohne viel Federlesen ins Meer geworfen, doch das Wiener Publikum tat keinen Mucks und verhielt sich weiterhin respektvoll. Trotzdem nahm meine Nervosität von einem Augenblick zum anderen immer mehr zu, weil ich merkte, dass dieser Auftritt nicht das von mir gewünschte Niveau erreichte. Dann kam das berühmte Quartett »Bella figlia dell’amore« (Schöne Tochter der Liebe), und auch hier musste ich ein, zwei Töne auslassen. Da wir zu viert sangen, hat das Publikum das möglicherweise nicht mitbekommen, doch war mir selbstverständlich bewusst, dass ich bei den hohen Tönen versagt hatte. Zum Schluss gab es ein wenig zögerlichen Beifall, nichts weiter. Ich fühlte mich äußerst unbehaglich: Weder war ich erkältet, noch hatte ich meine Stimme überanstrengt. Allerdings war ich kaum zwei Tage zuvor erst aus Kanada eingetroffen, wo ich in La Traviata gesungen hatte. Als sich mir mit einem Mal die Möglichkeit geboten hatte, mit Rigoletto erstmals vor das Wiener Publikum zu treten, und da ich nicht wusste, wann ich wieder eine solche Gelegenheit bekommen würde, hatte ich das Angebot ohne lange zu überlegen angenommen. Ich hatte nicht einmal mit dem Orchester geprobt, sondern lediglich ein wenig am Klavier. Auch hatte ich das Bühnenbild nicht gesehen, und da es keine Stellprobe gegeben
hatte, musste ich jeden meiner Schritte auf der Bühne mehr oder weniger improvisieren. Der erste Akt war im Großen und Ganzen glattgegangen, denn ich hatte »Questa o quella« durchaus annehmbar gesungen, doch im zweiten Akt begannen die Schwierigkeiten. Die lange Arie »Parmi veder le lagrime« (Mir scheint, ich sehe die Tränen) verlangte mir alles ab, und danach kam »La donna è mobile«. Offensichtlich forderten die Zeitverschiebung, der zwölfstündige Flug von Edmonton und die Nervosität bei meinem ersten Auftritt in der Stadt ihren Tribut. Ich habe oft über die Sache nachgedacht, bin aber nie dahintergekommen, was der wirkliche Grund war. Auf jeden Fall war ich dem Wiener Publikum dankbar für die Großmut, mit der es über meine Schwäche hinweggegangen ist.
Das Fiasko mit Rigoletto fand am 31. Januar 1974 statt. Niedergeschlagen kehrte ich in mein Hotel zurück, das Royal. Glücklicherweise zeigte das Fernsehen den Kampf um den Weltmeistertitel im Schwergewicht zwischen Joe Frazier und Muhammad Ali, der drei Tage zuvor stattgefunden hatte, und so konnte ich mich ablenken. Mir war klar, dass es sich um ein Augenblicksversagen gehandelt hatte, das einem Tenor jederzeit widerfahren kann. Trotzdem sah ich es als das Schlimmste an, was hatte geschehen können, weil es ausgerechnet bei meinem ersten Auftritt in der Wiener Staatsoper dazu gekommen war. Das Wiener Publikum ist ebenso dankbar wie anspruchsvoll, außerordentlich großzügig und begeisterungsfähig. Ich kenne keine Stadt, in der die Menschen die Musik mehr lieben. Als ich ein mir zuvor gemachtes wichtiges Angebot ablehnen musste, hatte Carlos Caballé gescherzt: »Mach dir da keine Sorgen. Sing einfach den Rigoletto, dann brauchst du den Vertrag nicht einzuhalten.« Noch heute bricht für mich die Welt zusammen, wenn ich an jenes Fiasko
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