Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
schlucken zu können. Die Lösung fand Dr. Grañena, der aus Barcelona muskelentspannende Medikamente mitgebracht hatte. Dabei handelte es sich um Librax und Bellergal, die seit Jahren im Handel waren und in meinem Fall geradezu Wunder wirkten, denn sie beseitigten das Problem fast von einem Augenblick auf den anderen. Ich war dem Arzt unendlich dankbar, weil ich wieder zur Ruhe kam, nachdem die Sorge verschwunden war, die mir die Reaktion meines Körpers bereitet hatte. Was das Knochenmark anging, wirkte das GM-CSF von Anfang an, und es kam mir vor, als bringe mich jeder Tag dem Augenblick näher, da ich nach Hause zurückkehren konnte. Das Knochenmark regenerierte sich nachhaltig, und Dr. Buckner zeigte sich mit der Reaktion meines Organismus auf das Mittel zufrieden.
Dr. Dean Buckner war eng mit Dr. Grañena befreundet, der gleichsam mit einem Bein in Barcelona und mit dem anderen in Seattle lebte. Er hatte die ganze Behandlung begleitet und beobachtete die Entwicklung des Patienten von Tag zu Tag. Wenn er um sieben Uhr abends zur Visite kam, war gewöhnlich der ältere Bruder des Patienten da, um sich berichten zu lassen. Dazu erzählt Albert Carreras: »Ich konnte zwar Englisch, doch Buckner, der mir von Anfang an den Eindruck gemacht hatte, wortkarg und kurz angebunden zu sein, war schlecht zu verstehen. Es war schwer, mit ihm warm zu werden. Als ich das einmal gegenüber Dr. Grañena erwähnte, sagte er, die amerikanischen Ärzte seien zwar gewöhnlich distanzierter als unsere, doch befinde sich José bei Buckner in ausgesprochen guten Händen, und ich müsse mir wirklich keine Sorgen machen. Einige Tage, nachdem man ihm das noch in der Erprobung befindliche Mittel gegeben hatte und ich seit drei oder vier Tagen nichts Neues erfahren hatte, kam Buckner auf mich zu und fragte mich, ob ich nicht mit ihm essen wolle. Auf meine Frage, wo, sagte er zu meiner Überraschung, bei sich zu Hause. Er lebte in einem hübschen Holzhaus oberhalb des Sees. Nachdem er eine Flasche Wein geöffnet hatte und bevor wir zu Tisch gingen – es gab einen von ihm selbst geangelten Lachs –, zeigte er mir in der Bibliothek seine beachtliche Sammlung von Platten, auf denen José sang. Er war ein großer Opernfreund und Verehrer meines Bruders. Der Mann, aus dem man im Krankenhaus kaum ein Wort herausbrachte, erwies sich als sympathisch, herzlich und einfühlsam. Er teilte mir mit, ich dürfe ganz beruhigt sein, mein Bruder werde gesund, und Musikfreunde auf der ganzen Welt würden das feiern.«
Einige Wochen später überbrachte Dr. Buckner dem Patienten selbst die gute Nachricht: Er sei so weit hergestellt, dass er darangehen könne, seine Rückkehr nach Spanien zu planen. Zwar seien weiterhin regelmäßige Kontrolluntersuchungen nötig, doch die ließen sich ebenso gut in Barcelona durchführen, sodass er nach und nach sein gewohntes Leben wieder aufnehmen könne.
Als mir der Arzt mitteilte, ich könne Ende Februar abreisen, merkte ich, wie sich mein Puls beschleunigte. Von diesem Augenblick an fühlte ich mich voll Leben. Ich begann Spaziergänge zu
unternehmen, meine Muskeln zu trainieren, Seattle zu erkunden, mit dem Wagen durch die Außenbezirke der Stadt zu fahren, und versuchte mich sogar, wenn auch erfolglos, am Lachsangeln, einem Sport, den in Seattle viele betreiben. Sogar das Wetter schien besser zu sein, als man mir gesagt hatte, allerdings muss ich hinzufügen, dass es sich anscheinend meiner erbarmt hatte, denn es regnete in diesem Februar nur selten. Den ganzen Monat hindurch verbrachte ich den größten Teil der Zeit in der Wohnung, musste aber jeden Tag zu Kontrolluntersuchungen das Krankenhaus aufsuchen. Meine Geschwister hatten Tag für Tag ein Formular auszufüllen, in dessen Spalten anzugeben war, wie und wie lange ich geschlafen hatte, was ich aß und wie viele Kalorien ich zu mir nahm. Im Laufe der Zeit merkte ich, dass ich allmählich wieder zu Kräften kam.
Nach einem bewegenden Abschied von allen Schwestern und Ärzten im »Hutch« flog Carreras in Begleitung seiner Geschwister am 26. Februar 1988 mit einer Maschine der Pan Am von Seattle nach London. Er war aufgewühlt und fühlte sich gleichzeitig als Glückspilz, weil er die Leukämie besiegt hatte, denn vor fünfundzwanzig Jahren betrugen die Heilungsaussichten bei dieser Krankheit weniger als fünfzig Prozent. Bei ihm war erschwerend hinzugekommen, dass man auf das risikoreiche Verfahren der autologen Transplantation hatte zurückgreifen müssen,
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