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Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Titel: Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Carreras
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Gewiss, manchmal kam mir der Gedanke, es sei besser, aufzugeben, und ich fürchtete, mir könnte die Kraft zum Weiterkämpfen fehlen. Das ist während der sieben Monate, welche die Behandlung in Anspruch nahm, ein-, zweimal vorgekommen. Doch diese Tiefs habe ich überwunden, ohne zu einem Antidepressivum greifen zu müssen, habe in meinen Schwächephasen Kräfte mobilisiert – die ich eigentlich nicht hatte – und an alles gedacht, was ich tun könnte, und daran, wie sehr mich meine Familie brauchte.

    Nicht einmal zwei Jahre später reiste der Tenor insgesamt dreimal nach Seattle, um an Benefizkonzerten im neuen Konzertsaal der Stadt mitzuwirken, deren Einnahmen für den Kampf gegen die Leukämie vorgesehen waren. Auf diese Weise hat er der Wissenschaft etwas von all dem zurückgegeben, was die Medizin für ihn getan hat. Gemeinsam mit Edward Donnall Thomas hat er einen Ableger seiner Stiftung auf den Weg gebracht, dessen Hauptquartier Seattle sein sollte.

    Was ich bei meiner ersten Rückkehr in die Hauptstadt des Staates Washington empfunden habe, lässt sich nur äußerst schwer beschreiben. Auf jeden Fall war es ein Augenblick, in dem sich die unterschiedlichsten Gefühle vermengten. Auf der einen Seite empfand ich eine gewisse Beklemmung beim Gedanken an all das zurückliegende Leiden, auf der anderen war mir bewusst, dass ich als gesunder Mensch zurückkehrte und der ganzen Welt sagen konnte, dass auch dann noch Hoffnung besteht, wenn das Ende des Tunnels nicht zu sehen ist. Als ich wenige Stunden nach meiner Ankunft durch die Straßen der Stadt streifte, ihre Gebäude bewunderte und die Stille ihrer Parks genoss, ging mir durch den Kopf: Was für ein Glück hatte ich doch, wie herrlich ist es, dass ich von Seattle mehr als die Wände eines Krankenhauszimmers kennenlernen kann. Ich fühlte mich moralisch verpflichtet, Leukämiepatienten aufzusuchen und ihnen zu sagen, dass ich genau dasselbe durchlitten hatte wie sie, sie zu umarmen und ihnen zuzurufen: »Kopf hoch! Sei ein Kämpfer, gib nicht auf. Mach immer weiter!«

12.
Ode an das Leben
    A n den ersten Märztagen des Jahres 1988, lang bevor die Ärzte José Carreras erlaubt hatten, seine Stimme auszuprobieren, hat er sich im Badezimmer seines Hauses in l’Ametlla del Vallès eingeschlossen und Stimmübungen gemacht und danach verschiedene kürzere Stücke aus Puccinis Manon Lescaut gesungen. Vorher hatte er das nebenbei unter der Dusche versucht, jetzt aber galt es ernsthaft festzustellen, ob die Strahlentherapie seine Stimme in Mitleidenschaft gezogen hatte. Für die Arien aus jener Oper entschied er sich, weil er einige Wochen zuvor das Band einer seiner letzten Aufnahmen aus der Zeit vor der Leukämiediagnose bekommen hatte. Dabei hatte er an der Seite Kiri Te Kanawas und unter der Leitung von Riccardo Chailly den Des Grieux gesungen. Carreras schloss sich mit einem Kassettenrekorder im Bad ein, ließ das Band laufen und sang als sein eigener Doppelgänger mit, als wolle er feststellen, ob sich seine Stimmlage verändert hatte. Die Kontrolle verlief zufriedenstellend, was ihn mit neuem Mut erfüllte und in seinem Tatendrang bestärkte. Als er Ciril Rozman, dem Leiter der Hämatologie des Hospital Clínico von Barcelona, berichtete, was er getan hatte, hob dieser kritisch die Brauen, erinnerte ihn daran, dass alles seine Zeit brauche, und mahnte ihn, nichts übers Knie zu brechen. Er empfahl ihm, Geduld zu haben und mit weiteren Versuchen dieser Art zu warten, bis er ihm grünes Licht gebe.
    Einige Wochen später war es so weit: Er durfte darangehen, den Zustand seiner Stimme zu überprüfen. Der als HNO-Arzt der Sängerstars bekannte Wiener Heinz Kürsten, den er seit Jahren gut kannte und der ihn nach seiner Rückkehr aus Seattle einige Male angerufen hatte, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, wurde mit der Untersuchung der Auswirkungen der Strahlen- und Chemotherapie auf Carreras’ Stimmbänder
beauftragt. Gewissenhaft unterzog er sich dieser Untersuchung, deren Ergebnis nicht günstiger hätte ausfallen können.Trotz der Behandlung befand sich sein Stimmorgan in gutem Zustand, doch empfahl ihm der Kehlkopfspezialist, sich mithilfe kurzer Stimmübungen vorsichtig heranzutasten – jeweils eine halbe Stunde vormittags und nachmittags.

    Ich machte mich am Flügel in meinem Hause an diese Übungen und hatte schon bald genug Zuversicht, um ein Repertoire für mein Wiederauftreten an einem Tag zusammenzustellen, der mir immer näher zu rücken

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