Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
schien. Der Pianist Vincenzo Scalera begleitete mich, sobald ich merkte, dass meine Stimmlippen, von denen der Zustand der Stimme abhängt, in der Lage waren, starke Anspannungen auszuhalten. Die fünf Monate, die ich in meinem Haus in l’Ametlla del Vallès verbrachte, dienten mir dazu, mich als Sänger wieder »in Form« zu bringen, doch ich profitierte auch als Mensch davon, denn ich genoss in vollen Zügen die Gegenwart meiner Kinder, die ich, durch die Rastlosigkeit meines Berufs bedingt, viel seltener gesehen hatte, als mir eigentlich recht war. Júlia war inzwischen fast zehn und Albert fast fünfzehn Jahre alt, und ihre Gegenwart stärkte mich mehr als jedes Arzneimittel. Ich hatte während meiner ganzen Behandlung ständig an sie gedacht, und sie jetzt im Garten herumlaufen zu sehen, war für mich bewegend und zugleich bereichernd. Ich hänge wirklich sehr an beiden: Júlia war ein bezauberndes Mädchen, ist heute glücklich mit David verheiratet und eine außergewöhnliche Mutter, die meinem Herzen sehr nahesteht. Als Halbwüchsiger war mir Albert sehr ähnlich, und das nicht nur körperlich. Heute sind er und seine Frau Ingrid ein bezauberndes Paar, Albert hat eine lebensbejahende, fröhliche und großzügige Ausstrahlung und füllt auch die Vaterrolle sehr gut aus. Fast würde ich so weit gehen zu sagen, dass ich damals, als ich täglich von meinen Kindern erfuhr, was ihnen Freude und Kummer bereitete, überhaupt erst entdeckte, was es bedeutet, Vater zu sein. Von alldem hatte ich früher vor lauter Proben, Aufführungen und Flügen von einem Kontinent zum anderen nichts mitbekommen.
Auch die Kinder haben gelitten, als ich in Barcelona und Seattle im Krankenhaus lag, und so bedeutete es für sie eine doppelte Freude, mich den größten Teil der Zeit bei sich zu haben. Ihre Mutter hatte ihnen im Zusammenhang mit meiner Krankheit und meiner darauffolgenden Genesung nie etwas vorgemacht, ohne je zu dramatisieren, hatte es ihnen mit Worten erklärt, die geeignet waren, ihnen keine Angst zu machen, und dafür gesorgt, dass sie nie die Zuversicht verloren. Sie hatte es auch verstanden, auf die Fragen der Schulkameraden meiner Kinder zu antworten, die sich – da ich ja eine öffentliche Person war – nach meinem Gesundheitszustand erkundigten oder wissen wollten, wann ich wiederkäme.
Während die Tage vergingen, begann ich mir Gedanken über die Möglichkeit eines ersten Konzerts in meiner Heimatstadt Barcelona zu machen, das unbedingt etwas ganz Besonderes sein sollte. Schon auf dem Rückweg von Seattle hatte ich mir überlegt, auf welche Weise ich für die Bemühungen so vieler Angehöriger der Heilberufe danken könnte, die sich um mich gekümmert hatten. Ich hatte die Idee zu einem Benefizkonzert, dessen Erlös dem Kampf gegen die Leukämie zugutekommen sollte, doch wusste ich nicht so recht, wie ich das bewerkstelligen könnte. Ein mir bekannter katalanischer Unternehmer, b Duran Farell, Präsident des städtischen Ausschusses für die Ausrichtung der Feier zum Gedenken an die Weltausstellung, die 1888 in Barcelona stattgefunden hatte, regte an, dieses genau hundert Jahre zurückliegende Ereignis mit einem Konzert anlässlich meiner Rückkehr auf die Bühne zu feiern. Bei den Vorbesprechungen kam der Gedanke an eine Stiftung auf, mit deren Hilfe sich mein Wunsch verwirklichen ließe, mich im Kampf gegen die Leukämie nützlich zu machen, und Farell bot mir an, mich dabei zu unterstützen. Der Ausschuss verpflichtete sich, einen finanziellen Grundstock zur Verfügung zu stellen, sodass zusammen mit den Einnahmen aus dem Konzert über fünfunddreißig Millionen Peseten zusammenkommen würden (heute wären das rund 220 000 Euro). Das Konzert sollte am
21. Juli 1988 vor dem Triumphbogen von Barcelona stattfinden, der hundert Jahre zuvor als Haupteingangstor zur Weltausstellung errichtet worden war. Man beschloss, in der vordersten Sitzreihe Plätze zum Preis von 250 000 Peseten zu verkaufen, während die Menschen in den Reihen dahinter kostenlos zuhören konnten.
Am Vorabend der Veranstaltung, die seine Rückkehr auf die Gesangsbühne bedeuten sollte, probte Carreras am Ort des Geschehens vor den Mikrofonen. Obwohl niemand diese Probe angekündigt hatte, fanden sich auf der breiten Straße, auf der man eine improvisierte Bühne aufgestellt hatte, zahlreiche Menschen ein, die ihn sehen wollten. Er merkte das leichte Bauchgrummeln des Lampenfiebers, als er vor das Mikrofon trat, und die Hunderte, die
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