Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
gekommen waren, verstummten, sodass ihn völlige Stille umgab. Als er einige Takte sang, um sich zu vergewissern, dass mit der Akustik alles stimmte, applaudierten seine Anhänger begeistert. Carreras war von der Reaktion seiner Landsleute tief beeindruckt, und ihm war klar, dass das lediglich die erste von zahlreichen Emotionen war, die in den folgenden Stunden auf ihn einströmen würden.
Am Tag des Konzerts ging ihm, während er auf der Autobahn von l’Ametlla nach Barcelona fuhr, alles Mögliche durch den Kopf. Er dachte an die zahlreichen neuen Situationen, die er in den zurückliegenden zwölf Monaten durchlebt hatte, an die rückhaltlose Unterstützung seiner Angehörigen wie auch an all die Beweise von Zuneigung, die er von vielen, ihm großenteils völlig unbekannten Menschen bekommen hatte, aber auch von Kollegen, bei denen bisweilen das Wissen darum, ein Star zu sein, auf Kosten der Menschlichkeit geht. Er fuhr die vierzig Kilometer mit offenem Fenster, um die Berührung des Windes auf dem Gesicht zu genießen. Nach seinem Sieg über die Leukämie hatte er Dinge schätzen gelernt, auf die er früher nicht geachtet hatte: mit Freunden Karten spielen, ohne an den nächsten Chemotherapiezyklus denken zu müssen, sich mit dem Setter im Gras wälzen, dem die Kinder nach der Fernsehserie Magnum den Namen Higgins gegeben hatten, oder Júlia und Albert an sich drücken, während sie über die Zukunft sprachen, denn jetzt hatte er wieder eine Zukunft. Als er in die Stadt einfuhr, musste er daran denken, dass ihn seine schwere
Krankheit zu einem anderen Menschen gemacht hatte. Zuvor hatte er seinen Beruf selbstsüchtig ausgeübt, indem er alles der Karriere unterordnete, ohne sich bewusst zu sein, dass nicht nur aufsehenerregende Erfolge glücklich machen.
Am Tag meiner Rückkehr auf die Bühne musste ich mich gegen meine Empfindungen panzern, sonst wäre es mir unmöglich gewesen zu singen. Zwei Stunden vor Beginn des Konzerts war die breite Prachtstraße Lluís Companys schwarz von Menschen, die gekommen waren, um mich zu hören, und weitere drängten sich an den Einmündungen in diese Straße. Die Stadtpolizei schätzte, dass sich an diesem 21. Juli eine Menge von über hundertfünfzigtausend um den Triumphbogen herum eingefunden hatte. Ich war ziemlich früh gekommen und fühlte mich in meiner improvisierten Garderobe auf der Bühne ausgesprochen glücklich, als ich merkte, wie sehr man mich in meiner Heimatstadt schätzte. Mit einem Mal kam mein Kollege und Freund Giacomo Aragall herein, um mich zu umarmen. Auch Agnes Baltsa und Montserrat Caballé waren gekommen. Letztere hatte eigens dafür Auftritte in Madrid abgesagt. Ich holte tief Luft und fragte mich, was ich wohl um zehn Uhr abends empfinden würde, wenn ich vor dieser ungeheuren Menschenmenge anfangen würde zu singen.
Nur wenige Minuten nach zehn trat ich auf die Bühne, und als ich merkte, mit welcher Wärme man mich empfing, kam es mir vor, als könne ich nicht einmal Guten Abend sagen. Ich hatte einen Kloß in der Kehle, und meine Augen wurden feucht. Ich wusste nicht, wie ich den nötigen Abstand zum Publikum herstellen sollte, und versuchte, an etwas anderes zu denken. Als mir das fast gelungen war, sah ich, dass man auf die Wand eines Hauses auf Katalanisch den Satz projiziert hatte: »José, wir freuen uns, dass du wieder hier bist.« Meine Landsleute machten es mir wahrlich nicht leicht, doch schließlich gelang es mir, Herr der Lage zu werden, und ich begann zu singen. Für den Anfang hatte ich mich für »T’estimo« entschieden, die katalanische Fassung von Edvard Griegs Lied »Ich
liebe dich«, eins meiner liebsten, und den Schluss bildete »Nessun dorma«, die Arie des Prinzen Kalaf aus Turandot , die ich hinreißend finde, obwohl sie alles andere als einfach zu singen ist.
Menschen aller Schichten hörten ihm zu. Sicherlich bildete das Publikum einen repräsentativen Querschnitt durch die Bewohner der Stadt Barcelona, in der Menschen aus allen Teilen der Welt leben und die ein toleranter und zivilisierter Schmelztiegel geworden ist, eine Stadt, die sich mit Liebe und Achtung jener annimmt, die sie als ihre Bürger ansieht. Das galt auch für den Tenor aus Sants, den die ganze Welt kannte, der aber tief in seiner Herkunft aus dem Volk verwurzelt war. Die Stadtverwaltung hatte für dieses Konzert eine Reihe von Vorkehrungen treffen müssen. Dazu gehörte es, Straßen zu sperren, einen Autobus-Zubringerverkehr zu organisieren,
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