Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
Karriere über die Grenzen Europas hinaus auszustrahlen, einen festen Platz im Herzen des Publikums zu erringen und Musikliebhaber aller fünf Kontinente zu begeistern.« Im kreisrunden Gang des Liceu-Foyers wurde eine Ausstellung mit Fotos und Gegenständen aus dem Leben des Tenors eröffnet, die das Publikum drei Monate lang betrachten konnte. Überdies wurde das Konzert auch vom katalanischen Fernsehen übertragen.
Das Konzert war eine von Achtung und persönlicher Anerkennung getragene Angelegenheit, für die ich nicht nur dankbar war, weil sich das so gehört, sondern auch, weil es mir eine unbeschreib - liche Freude bereitet hat. Ich hatte mich dem Liceu stets besonders verbunden gefühlt, denn schließlich war ich vor meiner Krankheit alljährlich dort aufgetreten, sei es in Die Macht des Schicksals, La Bohème, Carmen oder La Gioconda . Nach meiner Leukämieerkrankung habe ich dort wieder in Opern wie Cristóbal Colón von Leonardo Balada gesungen, einer Auftragsarbeit der spanischen Regierung zur Feier des fünfhundertsten Jahrestages der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, Sly von Ermanno Wolf-Ferrari oder Samson und Dalila von Camille Saint-Saëns, aber auch bei verschiedenen Konzerten und Soloabenden. Daher sollte diese Gala etwas Einzigartiges sein und über den Rahmen des Opernhauses hinausreichen. Der Rat der Stadt hat uns den Strand von San Sebastián im Fischerviertel Barceloneta zur Verfügung gestellt, auf dem eine ebenso große Menschenmenge wie im Liceu selbst zusammenkam, die meinen Auftritt auf der Videoleinwand verfolgen konnte. Da diese Übertragung um etwas mehr als eine halbe Stunde zeitversetzt erfolgte, war es mir möglich, meine Mitbürger selbst zu begrüßen, indem ich ihnen vor dem Hintergrund der Mittelmeerwellen das Lied »Rosó« von Josep Ribas i Gabriel vortrug. Gegen Mitternacht wandte ich mich an sie und sagte, wie nahe mir diese Augenblicke gingen und wie dankbar und glücklich ich sei. Es war auf jeden Fall ein unvergesslicher Abend.
Roger Alier, Kritiker der Tageszeitung La Vanguardia, wählte für seine Besprechung des Abends die Überschrift »Einer von uns«. Genau das haben Barcelona und ganz Katalonien in José Carreras stets gesehen: den Nachbarn, auf den man stolz ist, weil er der Welt gezeigt hat, dass es dank Willenskraft auch einem Jungen aus einem Viertel einfacher Leute möglich ist, auf den Bühnen der Welt Triumphe zu feiern, sofern sich zur Begabung ständiges Bestreben und harte Arbeit gesellen. Aber man ist auch stolz auf
ihn, weil er es fertiggebracht hat, seine schwere Krankheit zu überwinden und mit der gleichen Leidenschaft und Zähigkeit auf diese Bühnen zurückzukehren. Alier begann seine Darstellung mit den anerkennenden Worten: »Trotz seiner unbezweifelbaren sängerischen Begabung, die ihn zum Star gemacht hat, war Carreras’ Leben alles andere als einfach.« Und er fuhr fort, es sei eine große Genugtuung gewesen, vor dem Publikum im Liceu das fünfzigjährige Jubiläum seines Debüts dort zu feiern. Carreras, den – wie bei allen Konzerten in den letzten Jahren – der Pianist Lorenzo Bavaj begleitete, war grandios.
Lorenzo, ein wahrer Profi, mit dem mich Carlos Caballé 1989 bekannt gemacht hat, ist trotz seines ungarischen Nachnamens Italiener. Er stammt aus Rossinis Heimatstadt Pesaro, wo er am Konservatorium unterrichtet, einem der drei besten Italiens. Wir beide harmonieren vorzüglich, und er hat mich bei mehr als sechshundert Konzerten begleitet. Außerdem kann er, wenn wir nicht auf der Bühne stehen, ausgesprochen lustig sein, und ich betrachte ihn als wirklich guten Freund.
Der Tenor sang Kompositionen von Tosti, Puccini, Toldrà, Guastavino, Lama und Grieg – sowie ein Lied von Carlos Gardel mit dem Titel »Lejana tierra mía« (Mein fernes Land). Er musste über zwanzigmal vor den Vorhang treten und sich vor dem stehend applaudierenden Publikum verbeugen, das ihm mehrere Zugaben abverlangte.
Vier Jahre zuvor hatte er in seiner zweiten Heimat, nämlich an der Wiener Staatsoper, zur Feier des dreißigsten Jahrestages seines ersten Auftretens (1974) dort eine ähnlich bewegende Veranstaltung erlebt. Dabei wollte er das Publikum mit drei künstlerischen Höhepunkten überraschen: neun Liedern von Opernkomponisten (unter anderen Leoncavallo und Puccini), dem zweiten Akt der Oper Sly, den er zusammen mit der belgischen Sopranistin afrikanischer Herkunft Isabelle Kabatu sang, sowie mit dem Schlussakt von Carmen, bei dem er
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