Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
– so wie nahezu alles in Leipzig aussieht – war Carreras abgestiegen.
Da es nicht seiner Art entspricht, etwas dem Zufall zu überlassen, hat er sich, obwohl das Programm erst um 20.15 Uhr beginnt, schon seit den frühen Morgenstunden an Ort und Stelle um alle Einzelheiten gekümmert,
lange vor der auf die Mittagszeit angesetzten Generalprobe. Die große Messehalle hat sich für einige Stunden in eine riesige Bühne verwandelt, vor deren wechselnden Kulissen Gospelchöre singen, ein Ballett tanzt, ein Orchester spielt sowie Opernsänger, Schlagersänger und Popgruppen auftreten. Große Bildwände ermöglichen es den Zuschauern, eingespielte Filme von Menschen verschiedenen Alters zu sehen, die gegen die Leukämie kämpfen, die die Krankheit besiegt haben, aber auch von Fällen, denen das nicht vergönnt war. Durch dieses glänzend organisierte dreistündige Programm führt José Carreras zusammen mit dem bekannten Moderator Axel Bulthaupt: Er interviewt Leute, stellt Freunde vor, die ihn begleiten, dann wieder singt er. Während der Probe ist die Bühnenpräsenz des Tenors ebenso unübersehbar wie der Respekt, mit dem ihn die Macher der ARD-Sendung behandeln.
Obwohl die Probe nicht öffentlich ist, finden sich mehrere Hundert Leute ein – Freunde und Bekannte der teilnehmenden Künstler sowie Mitarbeiter des Fernsehsenders, die genauestens auf die Bewegungen der Kameras und der Auftretenden achten.
Auch Carreras’ Kinder Albert und Júlia sind anwesend, wobei der Sohn deutlich aufgeregter ist als der Vater und hofft, dass alles funktioniert. »Beim vorigen Mal hatten wir eine Quote von fast zwanzig Prozent. Es ist wichtig, sie mindestens auf diesem Stand zu halten, das Fernsehen braucht Zuschauer. Heute läuft auf einem Privatsender eine Serie über Sissi mit bekannten Schauspielerinnen und Schauspielern, die uns Quote kosten kann. Außerdem hat sich im letzten Augenblick herausgestellt, dass Michael Bolton wegen der Flugverbindungen nicht kommen kann.« Alberts Schwester Júlia macht sich da weniger Sorgen: »Die Deutschen freuen sich auf die Gala, weil sie ein wichtiges musikalisches Ereignis ist, das zur Solidarität aufruft; für sie ist das hier sozusagen der Anfang der Vorweihnachtszeit.« Carreras hat im Hotel gut gefrühstückt, um bis zum Abend durchhalten zu können. Zu Mittag isst er so gut wie nichts, obwohl man in der Messehalle ein riesiges Büfett angerichtet hat. Für die Mitarbeiter der Sendung ist das sicher verlockend, aber für einen Menschen aus dem Mittelmeergebiet sind die angebotenen Speisen zu schwer.
Die Organisation hat ein hervorragendes Programmheft drucken lassen, mit Fotos einiger »Freunde von Carreras« von früheren Galas. Zu ihnen gehören die fröhlich lächelnde Liza Minnelli im Abendkleid, Luciano Pavarotti mit weißem Hut auf dem Kopf und riesigem Hermès-Tuch um den Hals, Robin Gibb, der beim Singen eine Sonnenbrille trägt und dessen blaues Jackett mit der Kulisse im Hintergrund farblich verschmilzt, Elton John mit orangefarbenen Brillengläsern, der ein Kreuz um den Hals trägt, Sting mit einer Frisur wie die Comicfigur Tim aus Tim und Struppi und in einer Pose, die aussieht, als hebe er vom Erdboden ab, die wunderschöne Anne-Sophie Mutter, die ihre Geige liebkost, Harry Belafonte, elegant mit weißem Haar und schwarzem Hemd, Plácido Domingo in seinem untadeligen Smoking und Montserrat Caballé mit ihrem unbeschwerten Lächeln.
Ab sechs Uhr abends beginnen sich die dreitausend Plätze der Messehalle allmählich zu füllen, wobei das Publikum ebenso feierlich gestimmt ist, als wenn es sich im Leipziger Opernhaus befände. Niemand braucht (wie bei anderen Sendungen üblich) den Zuschauern Hinweise zu geben, wann sie klatschen sollen, der Kamerakran gleitet über die Sitzreihen hinweg, damit die Bildschärfe überprüft werden kann. Eins, zwei, drei – die Gala beginnt. Mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks erscheinen die Videos von Menschen auf den Bildwänden, die wegen Leukämie behandelt werden, und wechseln mit den Auftritten der Künstler ab. Einige von der Leukämie geheilte Bürger der Stadt äußern sich live vor der Kamera. Carreras ist unübersehbar in seinem Element: Er leitet diese Veranstaltung schon seit vielen Jahren und fühlt sich ganz offensichtlich wohl dabei. Während die Sendung voranschreitet, zeigt eine große Uhr den jeweiligen Spendenstand an. Albert Carreras bekommt die Zahlen auf sein Mobiltelefon, bevor sie auf die große
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