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Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Titel: Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Carreras
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hatte eine Geschwulst in der Leiste gestanden, die sich im Verlauf von vier Tagen so sehr vergrößert hatte, dass sie nicht mehr aufstehen konnte. Sie ging ins Krankenhaus, nachdem sie das Mittagessen zubereitet hatte – Kartoffeln mit Erbsen –, weil sie überzeugt war, dass sie gleich wieder nach Hause gehen könne. Stattdessen aber wurde sie stationär aufgenommen, da man erkannt hatte, dass sie an Leukämie
litt und über keinerlei Immunabwehr mehr verfügte. Die Eltern ihres Freundes, die beide in der Krankenpflege tätig sind, haben ihrem Sohn klargemacht, dass ihr ein schwerer Kampf bevorstehe. Der junge Mann aus Bellvitge steht ebenso zu ihr wie ihre Bekannten, Geschwister und ihre Mutter, die sich ständig um sie kümmern. Bianca liest gern Gedichte und wagt sich sogar daran, selbst welche zu schreiben. Nach Ausbruch der Krankheit hat sie zunächst damit aufgehört, sich dann aber wieder dem Dichten zugewandt. Dass ihr Organismus das Knochenmark abstößt, ist ein Rückschlag, aber sie weiß, dass sie die Krankheit überwinden kann. »Bei José war es genauso, und jetzt geht es ihm großartig, schon ein Vierteljahrhundert lang«, sagt sie und lacht.

    Meiner Überzeugung nach besteht das Beste, was mir im Leben widerfahren ist, darin, dass mein Beispiel anderen dabei helfen kann, Hoffnung zu schöpfen – Patienten, aber auch deren Angehörigen. Dank meinem Beruf und meiner Stiftung ist es mir möglich, mit ihnen in Verbindung zu treten. Da ich mir dessen bewusst bin, und das sage ich ohne jeden Anflug von Dünkel, habe ich mich seit meiner Rückkehr aus Seattle entschieden, in dieser Richtung tätig zu werden. Es befriedigt mich, diesen Entschluss gefasst zu haben, und ich bin glücklich darüber, weil sich abzeichnet, dass wir den Kampf nach und nach gewinnen.

19.
Der erste Fanclub des Tenors wurde am Fuß des Fudschijama gegründet
    C arreras bringt Japan große Zuneigung entgegen, seit er dort 1973 zum ersten Mal gesungen hat. Der Tenor fühlt sich glücklich und in bester Gesellschaft, wenn er auf Tokios eindrucksvollem internationalem Flughafen Narita landet. Und er hat gelernt, sich in dieser Stadt mit ihren fünfunddreißig Millionen Einwohnern, der größten der Welt, zu bewegen, ohne sich zu verirren. Vor allem hat er sich die Wesensart der Japaner so sehr zu eigen gemacht, dass er sich mit ihrer Liebenswürdigkeit anderen gegenüber, ihrer Achtung vor der Tradition, ihrer Freude an der Kunst und ihrem Arbeitseifer identifiziert. Er fliegt jedes Jahr einmal ins Land der aufgehenden Sonne, um zu singen, fast immer im Herbst, weil er sich zu jener Jahreszeit dort am wohlsten fühlt. Nach seinem ersten Auftreten in Japan ist er immer wieder zurückgekommen, nur nicht während der Zeit seiner Leukämieerkrankung und der sich daran anschließenden Erholungsphase. Er hat im Land ein treues Publikum, das die Konzertsäle füllt, wenn er auftritt, und das bereits vor vierzig Jahren einen Fanclub ins Leben gerufen hat, von dessen Mitgliedern ihm einige um die ganze Welt zu seinen Konzerten nachreisen. Es ist kein Zufall, dass Japaner, die wissen, woher er kommt, bei seinen Auftritten katalanische Fahnen schwingen oder jemand ihn mit einem auswendig gelernten Satz auf Katalanisch begrüßt. Sogar seine Stiftung ist insofern in Japan vertreten, als eine Art Zweigstelle des Fanclubs Spendengelder auftreibt und Aktionen dafür durchführt.

    Japan ist ein außergewöhnliches Land, in dem wir Künstler uns bewundert und geachtet fühlen. Mir gefällt alles an diesem jahrtausendealten Volk, von der Stärke seiner Industrie über die altehrwürdigen
Traditionen bis hin zur gesunden Küche. Vor allem aber bewundere ich, mit welch tiefem Respekt Menschen einander dort behandeln. Es erzeugt ein Klima, das einem nicht nur das Gefühl der Sicherheit und das Bewusstsein vermittelt, als Mensch behandelt zu werden, man fühlt sich dabei auch ausgesprochen wohl. Damit soll nicht gesagt sein, dass es leicht ist, mit Japanern zu verhandeln – ganz und gar nicht. Sie sind harte, unnachgiebige und durchaus schwierige Verhandlungspartner, treten dem anderen jedoch mit ausgesuchter Achtung gegenüber. Ebenso staune ich über den Respekt, mit dem man in Japan Ältere behandelt. Während Erfahrung in westlichen Ländern nicht viel gilt, wird sie in Asien geschätzt. Man betrachtet dort das Leben als einen Fluss oder einen Staffellauf, bei dem jeder eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen hat, und in diesem Sinne sind Alte und

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