Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten
die klären sollte, ob ich das überhaupt wert wäre. Ich wurde in eine Gemeinschaftspraxis in den Wedding zitiert, habe eine Dreiviertelstunde im Wartezimmer gehockt, wurde dann in einen Behandlungsraum geführt, eine Zahnärztin erschien, die sich weder mir vorgestellt hat, noch »Guten Tag« gesagt hat, die mir fünf Minuten ins Maul geschaut hat, ohne ein »Tschüss« verschwunden ist, und dann durfte ich gehen. Wenig später bekam ich den Bescheid, dass der Behandlungsplan mit Einschränkung befürwortet wird. »Einschränkung« bedeutet, dass ich vorher mit dem Rauchen aufhören muss, sagte mir meine richtige Zahnärztin, denn Rauchen greift das Zahnfleisch an, und dadurch können dann auch mal Zähne ausfallen. Und bei so einem Scheiß-Zahnfleisch zahlt die Kasse nichts. Ich werde erpresst.
Ich habe alle Kollegen gefragt: »Würdest Du für 785,60 Euro mit dem Rauchen aufhören?« Die meisten waren sich unschlüssig. Ich versuch’s jetzt. Und bin dadurch zu einem lebenden Pulverfass geworden. Wenn mir einer blöd kommt, gibt’s womöglich eins in die Fresse. Und was das die Krankenkasse erst kostet, übersieht gar keiner. Wenn ich meine entzugsbedingten Aggressionen rauslasse – das wird richtig teuer. Was sind meine fünf Kronen gegen ein vollständig eingeschlagenes Gebiss? Falls die Schrapnelle aus der Gemeinschaftspraxis im Wedding das liest, sollte sie sich mal darüber Gedanken machen und nicht, wie man möglichst unfreundlich seine krankenkassenhörige Gefälligkeitsarbeit verrichtet.
So. Dampf abgelassen. Seit neun Stunden auf Entzug. Alles aufgeschrieben. Jetzt erst mal eine rauchen.
Das Phänomen des Wachsens
Von Kindesbeinen an bin ich fasziniert vom Phänomen des Wachsens. Nicht vom eigenen Wachstum, denn sich selbst etwa achtzehn Jahre lang dabei zu beobachten, wie man immer länger wird, kann auf die Dauer ermüdend sein. Zwischendurch kommt kurze Aufmerksamkeit auf, wenn an Stellen, wo das vorher nicht der Fall war, Haare wachsen. Man experimentiert ein wenig mit Bärten herum, nach kurzer Zeit wird es lästig, und mit Abstand betrachtet, erscheint es einem lächerlich bis peinlich.
Was das Heranwachsen angeht, bin ich persönlich begeistert von der Aufzucht von Obst und Gemüse. Man pflanzt eine runzelige, keimende Kartoffel in den Boden, und nach gar nicht langer Zeit hat man wenigstens fünf neue. Man steckt ein paar Bohnensamen in die Erde und zack! hat man jede Menge Büsche mit Dutzenden von Bohnen dran. Der Wahnsinn sind Kürbisse. So ein Kürbis hat Hunderte von Kernen. Davon braucht man nur ein, zwei zu pflanzen und bekommt dafür fünf neue Kürbisse. Aus nur zwei Kernen. Wenn man alle Kerne eines einzigen Kürbisses pflanzen würde, hätte man Tausende. Wahnsinn! Und man muss dafür nur etwas gießen. Bei Obstbäumen muss man quasi nix machen, außer ab und an mal ein paar Äste beschneiden.
Ich habe jetzt eine Gartenfläche von etwa 800 Quadratmetern. Bei so einer Größe macht das dann doch ganz schön viel Arbeit, aber ich habe in diesem Jahr eine Ernte eingefahren, da kracht einem das Kreuz. Das meiste habe ich verschenken müssen. Man arbeitet tagein, tagaus im Garten, und irgendwann wird man verrückt.
Mein Nachbar hat auf seinem Grundstück außer ein paar Sträuchern nur Rasen. Alle paar Wochen kommt er mit seinem Datsun aus Süddeutschland hergefahren und mäht den Rasen. Wir pflegen regen Kontakt miteinander. Dialoge am Gartenzaun zwischen uns laufen etwa so ab:
»He, Andreas, du hast doch auch Ärger mit dieser Bauaufsichtsbehörde in Königswusterhausen.«
»Ja, hab ich.«
»Haben die mir doch ’ne Mahnung wegen meinem Wohnwagen ins Haus geschickt! Saach ma, sind die denn bescheuert? Ja, sind die denn bescheuert? Ich frage dich: Die sind doch wohl bescheuert. Ich sag dir, die sind bescheuert.«
»Ja, Hans, die sind hochgradig bescheuert.«
»Ach, hör mir uff«, sagt er und geht wieder zu seinem Rasenmäher.
Hans wird auch langsam verrückt. Als über die Ausländerhetzjagd in Mügeln in der Zeitung zu lesen war, kam er zu mir an den Zaun und sagte ganz leise und verschwörerisch: »Du bist doch gebildet. Nu pass mal auf. Ich hab mir überlegt: Dass die Nazis damals braune Uniformen getragen haben, lag das vielleicht an Hitlers Freundin Eva Braun? Hitler hat überlegt, welche Farbe die Naziuniformen haben sollten, und dann hat er an Eva gedacht. Das wär doch mal interessant: Wer war zuerst da? Die Uniformen oder Eva?« Ich konnte ihm da nicht
Weitere Kostenlose Bücher