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Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten

Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten

Titel: Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Scheffler
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Mittelzentrum und war sehr unzufrieden über die allgemeine Zufriedenheit unter seinen Ex-Mitschülerinnen und Mitschülern. Alle waren saturiert, hatten sichere Gehälter und waren abenteuerunlustig. Der Kollege war entsetzt, weil er genauso war, und ist in eine Krise gestolpert. Jetzt ist wieder alles gut, aber ich war gespannt, wie es bei mir sein würde.
    Das Organisationskomitee und ich, der als ehemaliger Jahrgangsstufensprecher eine Ansprache halten sollte, treffen uns schon eine Stunde vor dem offiziellen Beginn neben dem Schulhof zu ein paar Flaschen Prosecco. Auf dem Schulhof ist sowohl Alkohol- als auch Zigarettenkonsum verboten. Wir sind sehr locker, gelöst und vertraut, als hätten wir uns erst seit nur einer Woche nicht gesehen. Meine alte, kumpelhafte Freundin Frauke, die heute Pastorin am Ort ist, stürzt auf mich zu und küsst mich erst mal ab. Ich bin überrascht, aber nicht brüskiert. Frauke erklärt, sie werde den ganzen Abend nicht von meiner Seite weichen, und das wird sie auch in etwa hinkriegen. Nach und nach treffen die anderen ein. Manche erkennt man sofort wieder, andere sind so gealtert, dass man denkt, sie hätten ihren Vater beziehungsweise ihre Mutter geschickt.
    Es folgt die obligate Schulführung durch den stellvertretenden Schuldirektor Kerber, der seinerzeit als mein Sozialkundelehrer das Gossenssche Gesetz damit zu erklären versucht hatte, indem er fragte: »Wie viel Bier muss der Kerber trinken, bis der Grenznutzen erreicht ist?« Ich habe das Gossensche Gesetz nie verstanden. Die Lokalzeitung schießt ein Foto von uns, wir brechen auf zum Festsaal etwas außerhalb des ostwestfälischen Mittelzentrums.
    Wir sind etwa achtzig Leute, dazu einige Lehrer, alle haben 50 Euro bezahlt und können nun konsumieren bis zum Umfallen. Flatrate. Ein opulentes Buffet, Sekt, Wein, Bier und Ramazotti. Nach der drögen Schulführung wollen fast alle erst mal Sekt. Stefan, zu meiner Zeit Schülersprecher, der damals stinksauer war, dass ich als Jahrgangsstufensprecher die Abirede halten durfte, bringt mir einen Schnaps. Er hat eine Gruppe der damaligen internen Schülervertretung um sich geschart. Ich war zur gleichen Zeit Öffentlichkeitsreferent der Bezirksschülervertretung, also quasi eine Stufe über ihm, sein Vorgesetzter. Ein Organisator kommt auf mich zu und sagt, es wäre jetzt Zeit für meine Rede. »Ansprache«, sage ich, »ich halte keine Rede, nur eine kurze Ansprache!« Stefan bringt mir noch einen Ramazotti. Ich überlege kurz, ob er mich besoffen machen will, aber da kennt er mich schlecht. Ich kann einiges wegstecken. Ich bin kein Freund von Wettsaufereien, aber heute ist ein besonderer Tag. Und wenn er noch eine Rechnung mit mir offen haben sollte … Björn, der Organisator, geht ans Mikrofon und kündigt eine Rede von unserem Jahrgangsstufensprecher Andreas Scheffler an. Ich sage: »Nee, keine Rede, nur eine kurze Ansprache, um die ich gebeten wurde.« Also spreche ich von alten Zeiten, streue ein paar Anekdoten ein und warne lustig vor ausschweifendem Alkoholgenuss und drohendem Ehebruch an solchen Abenden. Die meisten hören zu, Stefan steht mit seinen SV-Kollegen hinten in einer Gruppe. Die hören nicht zu, sondern grölen den Ton-Steine-Scherben-Titel »Die letzte Schlacht gewinnen wir«. Ich komme zum Ende, höflicher Applaus, Frauke kommt auf mich zu, umarmt mich, küsst mich ab und sagt, meine Rede sei allerliebst gewesen.
    Jetzt wird gegessen, als gäbe es kein Morgen mehr. Mitten in das Getafele platzt Ottmar aus meinem Deutsch-Leistungskurs. Er trägt ein Paillettenkleid, ist merkbar angetrunken und verkündet lautstark: »Jawoll, ich bin eine Tunte! Das habt ihr doch schon immer gedacht!« Die Hälfte schweigt, die andere lacht brüllend. Alex steht auf, steigt auf einen Tisch, tritt dabei ein Weinglas um und ruft: »Wo wir schon mal dabei sind: Ich bin auch schwul!« Vier Weitere outen sich im Anschluss. Ich habe genug gegessen, nehme noch einen Ramazotti und betrete anschließend die Toilette, wo ich ein zweistimmiges Stöhnen aus einer der Kabinen vernehme.
    Ich kehre zurück in den Saal, man geht umher, spricht mit dem und der. Frauke, die vor der Toilette auf mich gewartet hat, weicht mir, wie angekündigt, nicht von der Seite und hängt sich gelegentlich um meinen Hals. In einem ruhigen Moment erklärt sie mir, dass sie schon immer und immer noch in mich verliebt wäre. Ihr Mann wisse das übrigens. Dann nimmt sie meine Hand und drückt sie an ihre Brust.

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