Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten
Wilting wäre jetzt in die Anstalt gekommen. Ich wüsste doch, der Alte mit nur noch einem Zahn, der immer mit der Schnapsflasche vor dem Sparmarkt gestanden hätte. Nachdem ihn seine Frau Gertrud, »eine feine Frau«, rausgeschmissen hätte wegen dem Suff, hätte er jeden Nachmittag, wenn er so richtig dicht gewesen wäre, vor ihrem Haus krakeelt, er wolle rein. Aber da kannte sie nichts. Die Nachbarn hätten das nicht mehr ausgehalten, und der alte Krumbiegel, obwohl der ja beinahe stocktaub sei, wäre dann zum Bürgermeister gelaufen. Und der wiederum hätte dafür gesorgt, dass der Franz in die Anstalt gekommen sei. »Ist wohl auch besser so«, schließt unser Postbote seine Erzählung. Ich biete ihm noch einen Schnaps an, doch er winkt ab. Er wäre ja mit seiner Tour noch nicht durch, sagt er, grinst, steigt auf sein Rad und fährt pfeilgerade den Sandweg entlang. »Ach, am Wochenende ist Feuerwehrfest! Kommt er?«, ruft Karsten noch. »Aber hallo!«, rufe ich zurück, und er nickt. Wir haben zwar vor ein paar Wochen Brüderschaft getrunken, aber er bringt es einfach nicht fertig, mich normal mit »du« anzureden.
Wir haben schon einige Käuze aufm Dorf. Natürlich nur, wenn man der Munkelei glauben darf. Da ist der etwas abseits wohnende Bauer Melzer, der es angeblich mit seinen Hühnern treibt. Sein Eierverkauf floriert trotzdem. Die langjährige Witwe Bäcker, die seit dem mysteriösen Tod ihres Gatten vier Liebhaber hatte, die alle irgendwann verschwunden waren. Manche wollen ein ums andere Mal in ihrem Schuppen des Nachts Grabegeräusche gehört haben. Der ledige Herr Jablonski, Mitte fünfzig ist angeblich schwul, weil er auf dem Schützenfest vor fünf Jahren sturzbetrunken im Zuge des Bruderschaft-Trinkens mit dem Bauausschussvorsitzenden beim besiegelnden Küsschen die Zunge eingesetzt habe. Der alte Uhrmacher Steinheim hat dem Vernehmen nach magische Kräfte und kann, wenn er will, bei den ihm in Reparatur gegebenen Uhren die Lebenszeit des Besitzers eingeben. Und der Förster, so sagt man, habe den letzten Waldbrand im Spätsommer verschuldet, weil er mit seinen Kumpels einen Wettbewerb veranstaltet habe, wer nach einer ausgiebigen Mahlzeit gebackener Bohnen beim Fürze-Anzünden die größte Stichflamme hinkriegt. Außerdem soll er angeblich illegal einen »Neger« beschäftigen, der aber nur nachts arbeitet, weil man ihn dann nicht sehen würde.
Ich lebe mich hier allmählich ein. Am Freitag gehe ich in den Dorfkrug. Dort werden einmal in der Woche immer Filme gezeigt. Mit einem 16-Millimeter-Projektor auf ein Bettlaken projiziert. In dieser Woche gibt es »Spur der Steine« mit Manne Krug. Am Samstag ist Feuerwehrfest. Da darf es nicht brennen, denn alle Einsatzkräfte sind schon nach kurzer Zeit hackevoll. Und nebenbei kriege ich von Karsten, dem Postboten, zu hören, dass in dem Dorf so ein Dichter wie ich noch gefehlt habe. Aber so was von! »Ja«, sage ich, »selbst gemachte Literatur ist schon was Besonderes.« – Und wenn das, was ich gerade erzählt habe, alles wahr ist, dann bin ich hier genau richtig.
Das Fest der Brüskierungen
Nach mehreren Jägermeistern mit Tante Frieda, die zu der Zeit auch schon ihre fünfundachtzig Jahre auf dem Buckel hatte; nach ihrer Aussage, was man habe, sei nicht so wichtig, Hauptsache, man bleibe gesund; und nach ihrem anschließenden lebhaften Ausruf: »Für uns geht die Sonne nicht unter!«, bin ich zu der Auffassung gelangt, dass die nachfolgend geschilderten Ereignisse der Öffentlichkeit nicht vorenthalten werden sollten.
Es begann wie in jedem Jahr am 26. Dezember: Die Familie versammelt sich zum Weihnachtsfest bei den Eltern. Sabine und ich, meine zwei älteren Brüder, Stefan und Jochen, mit ihren Frauen, ein Paar hat seine beiden kleinen Kinder dabei. Nach dem Kaffeetrinken schreitet man zur Bescherung. »Oh du fröhliche« und »Leise rieselt der Schnee« werden kakofon heruntergebrummt oder hochsopraniert, dann geht es zur Sache. Die Eltern werden gegen ihren Willen mit einem großen Geschenk beglückt, denn die Kinder haben zusammengelegt. Die Eltern ihrerseits überreichen Briefumschläge mit Bargeld; die beiden Kleinen bekommen jede Menge Spielsachen. Dann beschenken sich für gewöhnlich die Geschwister. Bruder Stefan verdient überdurchschnittlich viel Geld, entsprechend fallen seine Geschenke aus. Unsereins kann da nicht mitstinken und fühlt sich brüskiert. Der soziale Status lässt sich auch am materiellen Wert der Geschenke ablesen.
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