Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten
mit schwacher Stimme: »Es macht ja sonst keiner.«
»Ja, Paul«, sagten wir und erhoben unsere Bierflaschen zum Gruß, »und besser schon gar nicht.«
Ganz viel Natur
Wer lange Jahre in der großen Stadt lebt, womöglich gar in ihr aufgewachsen ist, hat zur Natur ein zwiespältiges Verhältnis. Er fürchtet sich vor ihren Unwägbarkeiten, und doch zieht es den Städter immer wieder hinaus ins Grüne.
Auch wir haben einen dieser kleinen, schon lange fahruntüchtigen Wohnwagen, die an einem festen Platz abgestellt sind und an verlängerten Wochenenden als Schlafraum dienen, bei Regenwetter als Lesezimmer. In diesem August haben wir uns vorgenommen, vier Wochen zu bleiben: ohne Fernseher und Videorecorder, ohne die Stammkneipe und die Einbaudusche – dafür mit ganz viel Natur.
Ein kleines Grundstück am Wasser, fünfzig Kilometer entfernt von Berlin, in Groß Köris. Die Sonne brennt und der Schulzensee stinkt. Ich leide unter einer Insektenphobie, ich hasse diese Viecher, und mein Verständnis für den Artenschutz versagt, sobald Tiere mehr als vier Beine haben. Hier, im sumpfigen Gelände, den Schilffeldern und Hecken, finden die Monster ihr Paradies; ich gewinne einen Eindruck jener Abteilung der Hölle, die mir dereinst blüht.
Dennoch bin ich freiwillig hier, niemand zwingt mich. Was treibt mich, der ich sonst in dunklen Räumen hocke und nur ungern die Wohnung verlasse, welche Kraft drängt mich in dieses brutale Areal? Ist es der Wahnsinn, welcher schon Reinhold Messner in die Arktis und Rüdiger Nehberg in die Amazonaswälder geführt hat? Die Grenze der persönlichen Belastbarkeit – ein Zustand, der mir bis dahin fremd war.
Vor dem Schlafengehen muss der Wohnwagen nach Spinnen abgesucht werden. Spinnen, jene Geschöpfe, die die Evolution, andere nennen es Gott, nur dazu ersonnen hat, der Menschheit zu zeigen, zu welchen Widerwärtigkeiten sie in der Lage ist. An jedem Abend fallen fünf bis sieben der achtbeinigen Personifizierung des Ekels mir zum Opfer, dazu einige Ohrenkneifer. Es gibt viele dieser Insekten, und am nächsten Tag sind wieder eine Unzahl Freiwilliger da. In der Nacht wache ich mehrfach auf, weil ich das traumatische Gefühl habe, ein gigantischer Weberknecht stampfe über mein Gesicht, um hier und da ein wenig an der zarten Haut zu nagen. Ich rudere mit den Armen und bemerke erst allmählich die zahllosen Mückenstiche. Lange liege ich dann wach, um mit weiteren hilflosen Handbewegungen die Angriffe neuer Geschwader brummender Blutliebhaber abzuwehren. Vergebens.
Am frühen Morgen wird die Unannehmlichkeit der juckenden Stellen nur noch durch den kreischenden Schmerz des Rückens übertroffen, des Rückens, der eine Schlafunterlage mit Taschenfederkern gewohnt ist, nicht plumpes Schaumgummi. Mühsam muss ich an jedem Tag den aufrechten Gang neu erlernen.
Arbeiten sind zu erledigen. Die große Trauerweide muss beschnitten werden und die Uferbefestigung erneuert. Ich schwanke in sieben Metern Höhe in stürmischem Wind, in der Rechten den Fuchsschwanz, die Linke verkrampft um einen Ast gekrallt. Anderntags stake ich bis zu den Hüften in brackigem Wasser und knüpfe unterhalb der Wasseroberfläche Weidenzweige um zuvor eingeschlagene Pfähle. Um mich herum schwirren hektisch Libellen, zum Teil handtellergroß, unberechenbar, plötzlich in meinem Gesicht zu landen. Gegen Mittag kommen auch die Wespen hervor und schließen sich den apokalyptischen Flugscharen an. Es ist erstaunlich, wie viele unterschiedliche Insekten es gibt. Manche zwicken, die meisten stechen. Die Fische verhalten sich weitestgehend ruhig. Nur ab und zu wird ein toter Graskarpfen herangeschwemmt oder ein sterbender, der mir mit einer letzten zuckenden Bewegung an die Seite schlägt. Und die ganze Zeit über diese furchtbare Ungewissheit, ob es hier Blutegel gibt!
Kurz vor der Unterkühlung steige ich an Land. Ich sehne mich nach meiner Stammkneipe, nach einem frisch Gezapften nebst angewärmtem Osborne Brandy. Es hilft nichts, hier besteht die Freizeitgestaltung aus Arbeit und aus Lesen. In diesen vier Wochen werde ich das Gesamtwerk Joan Aikens bewältigen – mindestens.
Dann kommt der Abend. Die Surfer, Motorbootfahrer und die Menschen auf den regelmäßig vorbeibrummenden Ausflugsschiffen, die mich den Tag über durch ihre Ferngläser beobachtet haben, bleiben fort. In der Dämmerung wird der Grill entfacht, und wenn es richtig dunkel geworden ist, werden die Kerzen entzündet. Viele Kerzen.
Nun kommt meine
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