Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten
Paul schon in Ordnung.« Die beiden Männer schlugen sich auf die Schenkel.
»Mit der Pinzette!«, gröhlte einer, der andere verschluckte sich an seinem Bier und fing dramatisch an zu husten.
»Ich mach den Laden jetzt dicht«, sagte Paul und schob uns sanft zur Tür. »Das mit dem Rasen …«, sagte er noch mit gesenkter Stimme zu mir. »Es macht ja sonst keiner.«
Ich nickte verständnisvoll, wir riefen: »Schönen Abend noch«, gingen über die Straße in Pauls Garten und genossen das Bier und den Sonnenuntergang.
»Sonst macht es ja keiner.« Diese Haltung oder besser tiefe Gewissheit: »Wenn ich es nicht mache, macht es keiner, und wenn doch, was unwahrscheinlich ist, aber mal den fast undenkbaren Fall angenommen, es machte doch einer, dann ganz bestimmt nicht so gut wie ich«, diese Gewissheit hatte schon viele gute Leute zermürbt. Paul mähte den Rasen, weil der sonst unkontrolliert wüchse, das Unkraut dazwischen hervorschösse, irgendwann alles platt darniederliegen würde und im feuchten Herbst oder Frühjahr verfaulte. Dafür musste er sich den Spott der Dorfzecher anhören. Helmut Schmidt hat den NATO-Doppelbeschluss durchgesetzt und wurde dafür von Friedensaktivisten angefeindet. Barack Obama hat in den Vereinigten Staaten die allgemeine Krankenversicherung auf den Weg gebracht und wurde dafür von konservativen Landsleuten aufs Übelste beschimpft. Humphrey Bogart hat die African Queen durch Zentralafrika geschleppt und musste sich dabei mit Blutegeln und deutschen Soldaten herumschlagen. Helmut Schmidt, Barack Obama, Humphrey Bogart und Paul wussten, dass es einer machen muss, allen Unkenrufen zum Trotz. Undank ist der Lohn der Welt und verwandelt sich, wenn überhaupt, erst im hohen Alter in Respekt und Anerkennung.
Wir standen nach zwei Jahren also wieder am Zetschiner See und konnten vor Staunen nur ergriffen schweigen. Die Bänke waren frisch mit dunkelgrünem Lack gestrichen. Davor war jeweils ein schmaler Streifen Gehwegplatten verlegt worden, damit die Bankbenutzer mit ihren Füßen keine Kuhle scharrten. Neben jeder Bank stand ein verzinkter Papierkorb mit einem extra darangeschweißten Aschenbecher. Der Spazierweg war mit frischem Rindenmulch belegt und säuberlich mit Rasenkantsteinen zur tadellos gepflegten Grasfläche abgegrenzt. Inmitten des Rasens befand sich ein Inselbeet mit einer selbst gegossenen, unauffälligen Randeinfassung aus Beton. Auf dem Beet strahlten einem Ritterspornstauden entgegen, umgeben von Storchschnabel und Glockenblumen als Begleitstauden. Aufgelockert wurde alles durch Mutterkraut, und am Rand sorgten frische, grüne Bergenien für einen harmonischen Abschluss. An der rechten Seite des Rasens standen kräftige Heckenrosen, und links blühten prächtige Stockrosen und Digitalis in Rot und Lila. Nirgendwo war auch nur ein Fitzelchen Unkraut zu sehen. Wenn man den Platz zu einem Spaziergang am See entlang verlassen wollte, ging man an beiden Seiten durch einen Rundbogen, der dicht von blühenden Kletterrosen bewachsen war.
Wir hatten gerade auf einer Bank Platz genommen und unsere mitgebrachten Bierflaschen geöffnet, da kam in einem viel zu großen blauen Overall ein alter Mann mit gebeugtem Rücken von der Straße auf den Platz. In beiden Händen hielt er je eine Gießkanne und schlurfte damit zum See. Einen Fuß zog er merklich nach und hatte große Mühe beim Gehen. Am Ufer kniete er sich unter Stöhnen nieder und füllte die Kannen mit Seewasser. Dann stand er mühsam wieder auf, schleppte sich zum Beet in der Mitte und begann, die Blumen zu gießen. Dabei schaute er kurz zu uns herüber, und wir erschraken. Es war Paul, eindeutig, aber nicht der Paul, den wir vor zwei Jahren in der Getränkehandlung gesehen hatten. Dieser Paul wirkte um Jahrzehnte gealtert. Sein Haar klebte schütter in grauen Strähnen auf der Stirn. Die Wangen waren eingefallen, die Augen traten hervor und trieften. Auf der linken Seite waren der Mundwinkel und das Augenlid nach unten gesackt. Die Haut wirkte grau und welk. Der Mann war am Rande der totalen Erschöpfung. Trotzdem schleppte er sich ein zweites Mal zum See und füllte die Gießkannen. Wir konnten nur dasitzen und schweigend verfolgen, wie er seine Mission erfüllte. Nachdem er zurück war, setzte er die Kannen vor dem Beet ab, hob den Kopf in unsere Richtung und versuchte ein Lächeln. Wir erschauderten. Es war, als grinste ein Totenschädel uns an. Er zuckte die Schultern, als wollte er sich entschuldigen, und sagte
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