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Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten

Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten

Titel: Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Scheffler
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Zeit. In anderthalb Metern Abstand von mir, der ich mit einem Glas Rotwein in die Nacht hinaussehe, stehen die Kerzen und üben ihre Anziehungskraft aus. Mit einem wilden Flackern in den Augen beobachte ich den selbstmörderischen Instinkt der kleinen Viecher. Es zischt, wenn sie in die Flammen fliegen. Immer neue kommen. Sie sind dumm, die toten Artgenossen schrecken sie nicht. Manchmal bleiben sie, noch lebend, im hinabfließenden Wachs hängen. Ganz unten zuckt ein großer Schneider. Ein Flügel ist bereits angesengt, doch es wird noch eine Weile dauern, bis die Flammen auch den Körper erreicht haben. Ich habe Zeit.
    Später, die Rotweinflasche ist geleert, blase ich die Kerzen aus. Mit der Taschenlampe begutachte ich die Überreste. Im Wohnwagen töte ich fünf bis sieben Spinnen und einige Ohrenkneifer. Ich lege mich auf das harte Lager. Es erwartet mich eine weitere schwere Nacht, doch der nächste Abend wird kommen.

Auf dem Rücken der Pferde
    Meinen ersten Kontakt mit Pferden, genauer gesagt mit Ponys, hatte ich durch Heike. Heike gehörte zwar nicht direkt zu unsere Clique in der Nachbarschaft, aber ihre Sippe war um ein paar Ecken mit meinem Vater verwandt, und so guckte ich ab und zu mal bei ihr vorbei. Ihr Vater hatte am Haus eine Werkstatt, in der er irgendetwas Ominöses arbeitete. An die Mutter kann ich mich nicht erinnern. Man sagte, sie sei irgendwann verrückt geworden und in die Anstalt gekommen, oder sie habe sich umgebracht, sich »davon abgeholfen«, wie es bei uns in der Gegend hieß. Alle paar Jahre wurde in Sundern ein Suizid zur Kenntnis genommen, was deutlich macht, unter welchen Umständen wir leben mussten, wenn es immer wieder einmal jemand für wünschenswert hielt, sich davon abzuhelfen.
    Bei Heike zu Hause roch es immer nach Essen. Noch heute empfinde ich es als unangenehm, wenn ich eine Wohnung betrete und es riecht nach Eintopf.
    Heike sang sehr gerne. Sie war sechzehn, und wenn ihr Vater nicht da war, legte sie in der Werkstatt eine Platte wie »Hit Rocket« oder »Disco Rocket«, jedenfalls irgendeine Rakete, auf und sang die neuesten Schlager von Penny McLean, Tina Rainford und Donna Summer mit. Ihre Stimme lappte sehr in einen heiseren Sopran, aber ich gab keine Bewertung ab. Neben dem Singen war Heikes größte Leidenschaft das Pferdewesen. In der Nähe gab es einen Ponyhof, und sie verballerte ihr gesamtes Taschengeld mit Reiten. Eine Stunde auf dem Ponyrücken kostete immerhin sechs Mark.
    An einem Nachmittag, ich hatte ihr schon eine halbe Stunde lang stoisch beim Singen zugehört, da sagte sie zu mir: »Gib mir mal einen Kuss.« Ich war damals vierzehn und perplex. Wir hatten nichts miteinander, waren nur lose verwandt, und ich fragte sie, warum um Himmels willen ich sie denn küssen sollte. »Stell dich nicht so an«, meinte Heike, »ich will nur mal üben. Und schon hatte ich ihre Zunge in meinem Hals. Es war widerlich. Sie schmeckte nach Eintopf. Als ich wieder Luft bekam, sagte sie: »Ich lade dich zum Reiten ein. Ich hab genug Geld.« Ich war vorher noch nie geritten, aber ich dachte: Mal reiten für lau – warum nicht? Wir schlenderten zum Ponyhof, und Heike zahlte für uns beide für je drei Stunden, also 36 Mark. Auf dem Weg sang sie »I love to love« von Tina Charles vor sich hin. Ich glaube aber trotzdem nicht, dass sie in mich verliebt war. Wir ritten auf zwei Wiesen, die von einem kleinen Wassergraben getrennt waren. Das heißt, eigentlich ritt nur Heike. Ich wurde unterdessen von einem stummen jungen Mann auf der Wiese herumgeführt. Heike peste über das Gras und sprang sogar über den Graben, hin und her. Mir war langweilig, und ich sagte, dass ich auch gern mal alleine reiten würde. Der Knecht gab mir die Zügel. Ich schlug leicht damit und sagte sowas wie »Hü«. Das Pony bewegte sich nicht. Ich drückte meine Hacken in die Flanken des Tieres, streichelte ihm den Kopf und flüsterte ihm ins Ohr, dass es jetzt aber mal hinne machen solle. – Nichts. Also verbrachte ich drei Stunden damit, auf einem Pony zu sitzen, das ohne mein Zutun von einem nicht minder gelangweilten jungen Mann, der guckte, als wäre er drauf und dran, sich davon abzuhelfen, über eine Wiese geführt wurde. Heike tobte unterdessen über das Gras, und jedes Mal, wenn sie singend und ohne einen Blick an mich zu verschwenden an mir vorbeigaloppierte, wurde mein Entschluss, sie nie wieder zu küssen, tiefer und endgültiger in Stein gemeißelt.
    Als ich wieder nach Hause kam, war es

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