Auserkoren
mir das Baby. Er legt die Arme um Mutter Claire, die erst an seine Brust, dann auf den Boden sinkt. Vater hilft ihr wieder auf, dann führt er sie zum Sofa in der Ecke.
Ich brauche eine Zeitlang, um Mariah zu beruhigen. Als sie sich mit ihren kleinen Ärmchen an meinem Hals festhält, trage ich sie in den Schlafraum von Mutter Sarah und Vater. Ich suche etwas Warmes, mit dem ich sie zudecken kann. Eine Häkeldecke in allen Regenbogenfarben.
»Wenn ich Onkel Hyrum umbringen würde«, sage ich in ihr eiskaltes Gesicht, während sie sich langsam in meinen Armen beruhigt, »dann würde ich es in Afrika tun.«
Wie kann ich mich mit ihm an einen Tisch setzen?
Ich hasse ihn. Ich hasse ihn.
Wie kann ich ihn heiraten?
Er ekelt mich an.
Ich muss einen Ausweg finden.
Seit über einer Stunde schon sitze ich in meinem Baum, umklammere Anne auf Green Gables , ohne auch nur ein einziges Wort zu lesen, und hasse Onkel Hyrum.
»Kyra.« Mutter Claire ruft mich. Mutter Claire, die niemals mit mir spricht, außer wenn sie mir Anweisungen gibt, ruft mich jetzt.
Ich klettere den Baum hinunter, vorsichtig, damit ich mein Kleid nicht an den Dornen zerreiße. Dann gehe ich zur Treppe ihres Wohnwagens.
Einen Augenblick lang stehen wir uns gegenüber, als ob wir Feinde wären.
Ich habe die Arme über der Brust verschränkt. Sie hat die Arme über der Brust verschränkt.
Mutter Claire räuspert sich, dann sagt sie: »Der Prophet gebietet uns, gehorsam zu sein. Ebenso die Apostel. So wie es in der Bibel steht.« Ihre Stimme ist wie Schilf: dünn und spitz. Ich habe keine Angst mehr vor ihr wie früher. Ihr Kleid ist so braun wie ihre Augen. Sie hat glatte Haut. Sie ist die ältere Schwester von Mutter Sarah. Um fünf Jahre ist sie älter. Sie haben die gleiche Haarfarbe, die gleichen Nasen.
Ich sage nichts, höre einfach zu, als nähme ich mir ihre Worte zu Herzen. Aber sie sind mir völlig gleichgültig . Mutter Claire hätte weglaufen sollen mit Mariah. Nein, ich hätte weglaufen sollen. Daran musste ich immerzu denken auf meinem Baum. Ich hätte weglaufen sollen, ohne mich auch nur ein einziges Mal umzusehen. Ich hätte Mariah vor meine Brust binden, über die Zäune springen, bis nach Florentin oder noch weiter laufen sollen. Bis in den nächsten Bundesstaat. Nur weg von hier.
»Denk an die Bibel. Dort steht, es ist besser zu gehorchen als Verdammnis auf sich zu laden«, sagt Mutter Claire.
Ich nicke. Jedenfalls tue ich so.
»Kyra.« Mutter Claires Gesicht ist jetzt ganz dicht vor meinem. Sie riecht nach Knoblauch. Ich sehe, dass sie geweint hat. Ich sehe es in ihren Augen. »Hör mir zu. Man kann schnell auf den falschen Weg geraten. Man kann schnell vom Pfad der Wahrheit abkommen.«
Als ich immer noch schweige, fährt Mutter Claire fort. »Sie beobachten alles. Sie sehen alles.« Ihre Stimme ist nun so leise wie das Knirschen des Sandes. »Sie hören, was in unseren Häusern vor sich geht. Sie wissen alles.«
Alles.
Nackte Angst packt mich, rast meinen Rücken hoch bis in die Haarwurzeln. Wissen sie etwas von Patrick? Wissen sie etwas von meinen Büchern? Wissen sie etwas von Joshua?
»Dein Vater tut nur, was der Prophet sagt. Aus schreienden Babys können ungehorsame Kinder werden. Wir tun, was man uns zu tun lehrt. Du kennst Leute, die das Gleiche tun, was wir heute getan haben. Andere bestrafen ihre Kinder noch härter. Es ist unsere Pflicht .«
Ich schaue Mutter Claire in die Augen. Warum soll ich hierbleiben, frage ich mich. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, zuckt sie mit den Achseln.
»So war es schon immer. Auch für deinen Vater. Das ist unser Leben. Wir sind gehorsam.«
Das ist nicht mein Leben , denke ich.
Wir blicken uns lange in die Augen
Dann nicke ich und gehe nach Hause.
Ich erinnere mich noch, als ich sechs oder sieben Jahre alt war. Damals saß ich auf Vaters Schoß, und er sagte zu mir: »Tue stets, was Gott dir sagt. Tue stets, was dein Vater dir sagt. Und auch, was deine Mutter sagt.«
Damals hatte er mich am Zaun ertappt, ich hatte einfach dagestanden und auf die andere Seite gestarrt. »Kyra«, sagte er, als wir wieder zu Hause waren und ich auf seinem Schoß saß, »du musst gehorsam sein. Du musst tun, was man dir sagt. Bleib zu Hause. Geh nicht weg.«
»Was ist dort draußen?«, fragte ich.
Vater schwieg. Dann sagte er: »Die Welt.«
»Ich will die Welt sehen«, sagte ich.
»Hier sind wir sicher«, antwortete Vater. »Hier sind wir unter uns. Allein.
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