Auserkoren
In Sicherheit. Hier drinnen. Nur wir. Wir. Wir, die Erwählten.«
»Sich draußen vor dem Zaun umzusehen, nach draußen vor den Zaun zu gehen, ist gefährlich«, sagte Mutter. »Es ist, als ginge man zu nahe an einen Abgrund. Du blickst zur anderen Seite und könntest dabei abstürzen. Du könntest alles verlieren, was du hast.«
Aber ich blickte trotzdem hinüber.
Unter dem Stein im Garten liegt ein Zettel. »Warte auf mich heute Nacht«, steht darauf. »Hinter dem Gemeindesaal. Südwestecke. Um halb zwei.«
Bis dahin kann ich warten.
Nach dem Abendessen kommt Mutter Victoria vorbei. Vater ist bei ihr. Ihr Lächeln ist aufgesetzt. Man sieht zwar ihre Zähne, sie verzieht die Lippen, aber in ihren Augen fehlt etwas. Weiß sie, wie mir zumute ist? War ihr ebenso zumute, als sie meinen Vater heiraten musste? Mutter Victoria fuchtelt mit einem Klemmbrett und einem Blatt Papier herum.
»Sarah«, sagt sie zu Mutter, noch immer mit ihrem aufgesetzten Lächeln. »Ich bin gekommen, um Maß zu nehmen.«
Laura ist in der Küche, sie hilft mir beim Geschirrspülen.
»Maß nehmen? Wozu?«, fragt sie.
Mir ist kalt, obwohl meine Hände in heißem Wasser stecken.
»Für Kyras Hochzeitskleid«, antwortet Mutter Victoria.
»Nein«, denke ich, und erst als ich es höre, wird mir klar, dass ich es laut ausgesprochen habe.
Mutter Victoria kommt ins Stocken, sucht nach Worten. »Hmm«, sagt sie. »Ich habe schon ein paar Ideen. Weißt du, damit es schön wird.«
»Nein.« Ich balle die Fäuste. Der Geruch des fettigen Spülwassers steigt mir in die Nase.
»Kyra«, sagt Vater. Mutter Sarah steht auf und kommt zu mir. Laura schweigt.
»Ich werde ihn nicht heiraten.« Ich werfe das Geschirrtuch hin und sehe meinen Müttern und meinem Vater ins Gesicht.
»Ich habe mit ihnen gesprochen«, sagt Vater. »Kyra,
Prophet Childs sagt, es kam von Gott selbst. Er hatte eine Offenbarung.« Aus Vaters Gesicht ist alle Farbe gewichen. Und er wirkt alt. So alt. Ich habe nie zuvor bemerkt, dass Vater alt wird.
»Mir ist egal, was ihm offenbart worden ist«, stoße ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Nur durchhalten bis heute Nacht , sagt mein Kopf, dann wirst du Joshua treffen. »Mir ist egal, was er gesehen hat.« Mein Magen dreht sich um. »Er will, dass ich meinen Onkel heirate. Deinen Bruder.« Ich schreie es hinaus.
Ich renne ins Bad, fast rutsche ich auf dem nassen Küchenfußboden aus.
Wie Mutter krümme ich mich über der Toilette. Ich schreie laut auf, »Aaah«. Meine eigene Stimme schlägt mir entgegen, so laut schreie ich. Dann übergebe ich mich so heftig, dass mir fast die Augen aus dem Kopf fallen. Die Haut spannt sich über meiner Brust und brennt. Das Essen des ganzen Tages, dahin. Und als ich sicher bin, dass ich nicht mehr würgen muss, als ich gerade aufstehe, kommt es mir wieder hoch. Und wieder. »Das ist nicht richtig«, keuche ich. »Ich liebe ihn nicht. Ich mag ihn nicht einmal.« Meine Stimme geht in ein Kreischen über.
Einfach nur durchhalten.
Ich höre, wie Carolina nebenan etwas sagt, dann fängt sie an zu weinen.
Ich weiß, ich sollte jetzt den Mund halten. Ich sollte tun, was man mir sagt. Aber ich kann nicht anders. Ohne es zu wollen, fange ich zu weinen an.
Jemand klopft an die Tür.
»Kyra?«, fragt Mutter.
Mein Hals ist rau. Im Bad stinkt es. Ich habe so krampfhaft die Fäuste geballt, dass ich mir mit den Fingernägeln die Handfläche aufreiße. Meine Nase ist verstopft. Mein Herz ist gebrochen.
Wie konnte das alles nur geschehen? Wie sind wir alle nur so weit gekommen?
»Kyra?«, sagt Mutter. »Vater wird noch einmal mit ihnen sprechen.« Sie kommt nicht zu mir herein. Sie spricht leise, sie will nicht, dass meine Geschwister hören, was sie zu mir sagt. Vielleicht will sie auch nicht, dass die, die uns belauschen, etwas hören.
Aber es ist egal, was sie sagt. Egal was sie mir verspricht, ich kann es nicht. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, meinen Onkel zu heiraten. Wenn ich nur daran denke, muss ich würgen. Gleich zerspringt mein Kopf.
Ich will nicht. Ich will nicht.
Ich stehe auf, nehme ein Handtuch und wische mir den Mund ab. Und in diesem Moment fasse ich den unumstößlichen Entschluss zu gehen, egal was passiert.
Weshalb gibt es so viele Babys?
Weil Kinder ein Segen Gottes sind. Genau so steht es im Alten Testament. Alle Propheten sagen dies. Seit Anbeginn der Zeiten ist das so.
Während des Gottesdienstes, wenn ich eigentlich aufmerksam sein und
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