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Auserkoren

Titel: Auserkoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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und zwar sofort. Sie geben uns nur einen kleinen Vorsprung, dann kommen sie und verfolgen uns.«
    »Nehmt mich mit. Ich ziehe mich an. Wartet auf mich.«
    »Nein!«, sagt ein anderer, dessen Stimme ich nicht erkenne. »Sie wird uns nur aufhalten. Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen weg, Johnson. Jetzt gleich!« Die Stimme klingt flehentlich. Ängstlich.
    »Ich muss gehen«, sagt Joshua. Er legt die Hand gegen das Gitter und ich lege meine Hand auf seine Hand. Ich spüre seine Wärme. Und dann ist er weg.
    »Komm zu mir zurück«, flüstere ich, als er in der Dunkelheit verschwindet.
    Aber wie soll ich wissen, ob er mich gehört hat?
     
     
    Eine außerordentliche Versammlung ist einberufen worden.
    »Beeilt euch«, sagt Mutter von ihrem Bett aus. »Ihr müsst ohne mich gehen.«
    Wo ist das Baby?
    »Hast du immer noch Schmerzen?«, fragt mich Laura, als wir zum Gemeindesaal gehen. Ihre Augen sind rot verweint wegen Abigail. Die kleine Abigail. So zierlich.
    Ich blinzle. Ich fühle mich schwach wegen der Schmerzen und weil ich nicht geschlafen, sondern geweint habe.
    Um uns herum hört man überall Gemurmel. Wir sitzen
getrennt, Männer auf der einen Seite des Raums, Frauen auf der anderen Seite. Die Klimaanlage läuft und bläst mir Kühlung zu.
    »Kommt her, Kinder«, fordert uns Bruder Mathias auf. »Setzt euch zu unserem geliebten Propheten.«
    Man hat einen Stuhl für ihn von der Bühne nach unten getragen, sodass er in unserer Nähe sitzt.
    Alle Apostel winken uns herbei, damit wir nach vorne kommen. Onkel Hyrum blickt in meine Richtung. Er führt die Kinder zu ihren Plätzen.
    »Setzt euch zum Propheten«, sagen die Männer. »Setzt euch zum Propheten.«
    Ich habe mich schon neben Mutter Claire gesetzt, ich möchte dem Propheten nicht zu nahe kommen.
    »Du auch, Kyra«, sagt Mutter Victoria mit einem aufgesetzten Lächeln.
    Ich zögere, dann gehe ich doch nach vorn. Aber zuvor nehme ich Mutter Claire Mariah ab, damit ich sie selbst auf dem Schoß halten kann.
    Warum bin ich hier? Wie bringe ich das nur fertig? Meine jüngste Schwester ist tot, mein Gesicht ist zerschunden, der Mensch, den ich liebe, ist fort. Wie kann ich nur dasitzen und so tun, als wäre ich freiwillig hier? Dabei möchte ich doch am liebsten davonlaufen.
    Die Frauen neben mir schauen weg. Mein Gesicht sagt ihnen, dass ich ungehorsam war. Dass ich bestraft wurde. Das ist für jeden klar ersichtlich.
    Wir setzen uns hin, alle Kinder kauern auf dem blauen Teppichboden. Einige spielen, manche lächeln sogar.
    Dann steht Onkel Hyrum auf. Er fängt an zu singen
mit seiner wohlklingenden Bassstimme. Es ist wundervoll. Und ich hasse ihn. »Gott hat uns den Propheten gesandt« , singt er. »Gott hat uns den Propheten gesandt zu unser aller Heil. Damit er uns seinen Willen offenbare, damit er uns leite, damit er uns in den Himmel führe.«
    Die Gemeindemitglieder erheben sich und klatschen, als Prophet Childs den Raum betritt. Er nickt uns zu, hebt die Hände, gibt uns ein Zeichen, uns hinzusetzen. Er nimmt, das Mikrofon in der Hand, auf dem kastanienbraunen Stuhl Platz.
    »Ich habe den ganzen Morgen im Gebet verbracht«, beginnt Prophet Childs.
    »Gelobt sei Jesus«, ruft ein Mann von den hinteren Bänken des Saals.
    »Ein Prophet betet für seine Anhänger.« Der Prophet flüstert diese Worte.
    »Das Wort Gottes«, ruft ein anderer Mann laut.
    Wir schweigen alle.
    Mariah sitzt reglos auf meinem Schoß. Ich habe das Gefühl, als schlängle sich eine Klapperschlange durch meine Eingeweide. Ich denke nur an Mariahs blonde Haare. An all die Farben, die ich in ihren Haaren sehe. Fast weiße Haare sind dabei. Drei verschiedene Blondtöne. Eine goldene Strähne.
    »Er betet für seine Anhänger. Er wünscht ihnen kein Leid«, sagt Prophet Childs.
    Spricht er über mich? Wünscht er, dass mir kein Leid geschieht?
    Sein Mund ist so dicht vor dem Mikrofon, dass man hört, wie er atmet.

    »Aber manche Kinder gehen in die Irre«, sagt er.
    Ich blicke weder nach rechts noch nach links, sondern nur auf Mariahs Haar. Das Haar, das sich so sanft anfühlt, wenn man es berührt. Das Haar, das so lockig ist, dass sie sicher viel Mühe haben wird, es zu Zöpfen zu flechten, wenn sie älter ist. Ob sie wohl spürt, wie mein Herz hinter ihrem Rücken klopft?
    »Einige von euch haben gesündigt«, sagt er.
    Ich sehe nichts. Ich höre nur seine Worte.
    »An diesem Ort seid ihr sicher vor dem Satan. Er ist draußen vor unseren Zäunen. Er ist überall. Auf der Straße.

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