Auserkoren
ihm einer der Männer reicht. »Sei froh, dass es nicht noch schlimmer gekommen ist, Miss Kyra.«
Ich bringe kein Wort heraus, so sehr muss ich weinen.
Ohne auch nur in meine Richtung zu sehen, entlässt der Prophet uns beide mit einer gelangweilten Handbewegung.
Als meine Mutter mich sieht, wird sie ohnmächtig. Laura holt schreiend Hilfe. Ich lege mich aufs Sofa und Margaret
läuft schnell ins Bad. Ich höre, wie Wasser läuft. Sie kommt mit einem nassen Tuch zurück.
»Hier«, sagt sie. Ich kann sie fast nicht hören.
Carolina schaut mich aus weit aufgerissenen Augen an und fängt an zu weinen. Dann sind meine anderen Mütter da. Mutter Victoria läuft zu Mutter Sarah, die wie eine kaputte Puppe aussieht, ihre Zöpfe hängen wie schlaffe Seile herab. Mutter Claire zieht mich auf ihren Schoß, ihre Tränen tropfen auf mich herunter.
»Kyra«, sagt sie.
Bitte , denke ich. Keine Predigten mehr. Nicht schon wieder. Ich überlege, ob ich wieder an Mozart denken soll, um ihre Vorhaltungen zu übertönen. Ich frage mich, ob er mir wieder zu Hilfe kommen würde.
»Ich wollte auch einmal weglaufen«, sagt sie leise.
Bei ihren Worten schrumpfe ich zu einem Häufchen Elend. Diese Frau, die unerbittlichste von allen Frauen meines Vaters, ausgerechnet diese Frau wollte weglaufen?
Ich sehe sie mit einem Auge an, das andere ist fast ganz zugeschwollen. Ich höre, wie Mutter Victoria sich leise mit Mutter Sarah unterhält, höre, wie sie in die Küche geht und Kräuter auf dem Herd abkocht.
»Es gibt kein Entrinnen von hier.« Mutter Claire streicht mir übers Haar, haucht einen Kuss auf meine Wunden, streicht mit den Fingern über meine aufgeplatzten Lippen. »Dreimal habe ich es versucht. Sie wollten mich brechen. Aber der Mann, der mein Ehemann werden sollte, wollte mich nicht mehr. Er sagte, ich sei ungehorsam. Er nannte mich eine Hure. Statt seiner habe
ich dann deinen Vater geheiratet. Wenn jemals etwas ein Segen für mich war, dann dies.«
Ihre Stimme ist wie Samt. Ich spüre kaum, dass Mutter Claire mich berührt. Vielleicht muss ich ja sterben.
Mutter Claire legt den Arm um mich. »Ich bin da«, sagt sie.
Sie summt und ich lehne mich an ihre Schulter und lasse mich von ihr wiegen.
Vater kommt nach Hause gestürmt, er reißt die Tür auf.
»Was zum Teufel?«, sagt er, als er mich sieht. »Wer hat dir das angetan, Kyra?« Er kniet sich vor mich hin, Mutter Claire wiegt mich noch immer in den Armen.
»Hyrum«, sagt Mutter Claire.
Er geht. Und bleibt stundenlang weg. Die Sonne geht unter und er ist immer noch nicht da.
Finn berichtet von dem Gerücht, dass Sheriff Felix ein paar Jungen fortjagen will. Bitte , bete ich, obwohl keines meiner Gebete bisher erhört worden ist , bitte gib, dass Joshua noch am Leben ist.
Mutter geht mit Carolina und Margaret zu Bett. Meine anderen Mütter gehen zu ihren Familien nach Hause. Ich bleibe auf, sitze im Dunkeln und warte auf Vater. Es klopft an der Tür, Emily kommt herein und grinst. Bis sie mein Gesicht sieht.
»Oh Kyra, oh Kyra«, sagt sie. »Mutter schickt mich. Soll dich besuchen. Soll dir was sagen.«
»Was sollst du mir sagen, Emily?«, frage ich.
Laura gesellt sich zu uns. Sie schaltet das Licht über
dem Herd an und macht die Ofentür auf, sodass auch dort das Lämpchen leuchtet. Draußen weht ein leichter Wind. Irgendwo bellt ein Hund wie verrückt, dann jault er auf und verstummt.
Emily, die einfältige Emily, setzt sich vorsichtig neben mich und küsst mich auf die Stirn.
»Kyra«, sagt sie undeutlich. Sie beugt sich ganz nah an mein Ohr. »Jesus hört dir zu.«
»Wirklich?« Ihre Worte treiben mir die Tränen in die Augen. Ich schaue sie an, und mir fällt auf, dass sie Laura ähnlich sieht.
»Er will, dass ich dir das sage«, fährt Emily fort. »Er sieht da hinein.« Sie berührt meine Brust, dort wo mein Herz ist. »Und dort.« Sie berührt meine Stirn. Dann flüstert sie: »Er liebt dich. Du kommst nicht in die Hölle.«
Sie küsst mein Gesicht, bis Vater nach Hause kommt.
»Laura«, sagt Vater, »bring Emily nach Hause und dann geh auch du schnell ins Bett.«
Beide umarmen ihn und wünschen ihm eine Gute Nacht.
»Setzen wir uns nach draußen«, sagt er zu mir.
Wir gehen auf die hintere Veranda. Ich spüre die ausgetretenen Bretter unter meinen Füßen. Ich höre, wie die Hühner sich für die Nacht auf ihre Stangen zurückziehen.
»Setz dich«, sagt Vater. Er legt den Arm um meine Schulter und zieht mich an sich. Ich
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