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Auserkoren

Titel: Auserkoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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und schlingt die Arme um sie.

    Sie sieht mich auf dem Sofa sitzen. »Kyra. Jesus sagt, dass er dich beschützt.«
    Ihre Worte machen mir Mut für das, was ich jetzt tun muss.
    »Setz dich neben mich, Emily«, fordere ich sie auf. Sie tut es. Ich hole tief Luft. »Ich muss euch etwas sagen.«
    Und dann erzähle ich ihnen, was mit Joshua und mir beim Propheten Childs geschehen ist. Ich erzähle ihnen, wie die Männer mich geschlagen haben. Wie Joshua in jener Nacht vorbeigekommen ist, um mir Auf Wiedersehen zu sagen. Ich erzähle ihnen, dass ich ihn liebe.
    Ich erzähle ihnen nicht, dass wir uns geküsst haben.
    Ich erzähle ihnen nicht, dass wir Händchen gehalten haben.
    Ich erzähle ihnen nicht, dass ich auf der Stelle mit ihm weggehen würde, jetzt sofort.
    Wenn man jemanden mit Blicken verschlingen könnte, dann wäre ich jetzt vom Erdboden verschwunden. Nicht weil sie wütend auf mich wären. Sie sind so entsetzt, dass alle drei nur dastehen und mich mit aufgerissenen Mündern anstarren. Emily tätschelt mich.
    Mutter Claire lässt sich in ihren Schaukelstuhl sinken. Mutter Victoria starrt mich fassungslos an. Dann sagt sie: »Oh nein, Kyra. Oh nein.«
    Vater schüttelt den Kopf. Er schüttelt immer nur den Kopf. Er schließt die Augen, und als er sie wieder aufschlägt, schüttelt er immer noch den Kopf. Und Mutter Victoria wiederholt immer und immer wieder nur das eine, wie eine Schallplatte, die einen Sprung hat: »Oh nein, nein, neineineineinein.«

    »Das wollte ich nicht«, sage ich und strecke die Hände aus, als würde mir vergeben, wenn ich sie nur lange genug ausstreckte.
    »Verstehst du denn nicht?«, fragt Vater. »Waren wir nicht immer eine gute Familie? Haben wir dich nicht gelehrt, was sich schickt? Wie konntest du nur so etwas tun?«
    Mutter Claire schaukelt hin und her. Der Stuhl knarrt. »Jetzt werden sie uns nicht mehr aus den Augen lassen.« Sie wirft mir einen Blick zu, und an diesem Blick erkenne ich, dass sie weiß, was es heißt, wenn einen der Prophet nicht aus den Augen lässt.
    Patsch, patsch, patsch macht Emilys Hand.
    »Dich, mich, deine Mütter, deine Brüder und Schwestern, uns alle wird der Prophet in Zukunft nicht mehr aus den Augen lassen«, sagt Vater leise.
    »Du bist daran schuld, dass sie uns jetzt beobachten«, sagt Mutter Claire, aber sie selbst würdigt mich keines Blickes.
    Ich schaue durchs Fenster hinüber zu unserem Wohnwagen, in dem Mutter liegt und schläft. Sie ahnt nichts. Mein Gesicht tut weh. Mein Rücken tut weh. Alles tut weh. Das, was ich getan habe, kann ich mit keinem Wort mehr rückgängig machen. Mit keinem.
    »Sie werden dich nie mehr aus den Augen lassen, Kyra.« Vaters Stimme ist matt. Er wirkt so alt. Ich fürchte schon, er könnte wieder zu weinen anfangen, aber das tut er nicht. Ich weiß, wie ihm zumute ist, ich kann mir vorstellen, welche Angst, er um meinetwillen aussteht. Alles nur um meinetwillen. »Sie werden dich nicht mehr
aus den Augen lassen, bis sie sicher sind, dass sie dich gebrochen haben.«
    »Das«, sagt Vater und deutet auf mein Gesicht, »das ist erst der Anfang.« Er kann nicht weitersprechen, sagt nur meinen Namen. »Kyra.«
    Ich lege die Arme um Vater, obwohl diese Bewegung schmerzt. Auch Emily rückt näher, um ihn zu trösten. Patsch, patsch, patsch, tätschelt sie ihn. Wir setzen uns gemeinsam auf das Sofa.
    »Wir erzählen Sarah einstweilen nichts davon, einverstanden?«, sagt Vater.
    Die Sonne wird gleich untergehen, und in den Raum, in dem wir alle sitzen, wird es düster. Jackson kommt an die Tür und sagt, dass alle Hunger haben. Bald, vertröstet ihn Mutter Claire, bald wird es etwas zu essen geben.
    Als die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, sage ich: »Wir alle könnten gehen.« Ich sage das leise, mit gesenktem Kopf. Wie Backsteine fallen die Worte nach unten, doch nach und nach steigen sie wieder auf. »Alle, Vater. Die ganze Familie. Wir könnten weggehen.«
    Die Worte steigen, steigen, steigen, bis alle sie gehört haben. Etwas wie Aufregung flattert in meiner Brust. »Ich weiß, dass wir es schaffen könnten, wenn wir es gemeinsam machen. Wir alle, Vater. Wir könnten weggehen. Wir könnten davonlaufen, mitten in der Nacht.«
    Mutter Claire sieht Vater fragend an. Vielleicht … Mutter Victoria sperrt wieder nur den Mund auf. Sie sehen einander an. Sind ihnen etwa schon die gleichen Gedanken durch den Kopf gegangen? Wollten sie womöglich von hier weggehen?

    »Wo sollte eine Familie wie unsere schon leben?«

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