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Ausersehen

Ausersehen

Titel: Ausersehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. C. Cast
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gingen zurück zu diesen Erfahrungen aus der Collegezeit, als ich den Kopf der sechsten Frau hielt, die in den letzten Minuten das dringende Bedürfnis verspürte, sich heftigst in ein Gefäß zu übergeben, das aussah wie ein Nachttopf direkt aus Oliver Twist .
    In den zehn Jahren, die seit meinem Collegeabschluss vergangen waren, hatte sich meine Meinung über viele Dinge geändert, aber hierüber nicht.
    Ich bin keine Krankenschwester und werde niemals eine sein. Punktum.
    Nachdem sie fertig war, wischte ich ihr das Gesicht ab und stellte überrascht fest, dass unter der Schicht Schweiß und Krankheit, die ihre Haut bedeckte, ein junges Mädchen steckte, vermutlich gerade einmal ein Teenager.
    „Besser?“, fragte ich sie sanft.
    „Ja, Mylady.“ Ihre Stimme war schwach, aber ihre Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. „Ihre Hand ist so schön weich und kühl.“
    Ich half ihr, sich wieder hinzulegen, und strich ihr das feuchte Haar aus der Stirn.
    „Würden Sie mich segnen, Mylady?“
    Ihre zittrig vorgebrachte Frage traf mich direkt ins Herz, wie jedes Mal, wenn diese Menschen mich um meinen Segen baten.
    Und wie ich es schon so oft an diesem Tag getan hatte, senkte ich den Kopf, schloss die Augen und betete: „Epona, bitte wache über dieses Mädchen und spende ihr Trost.“
    Dann öffnete ich die Augen und lächelte sie an. „Ich komme später wieder, um noch einmal nach dir zu sehen“, versprach ich, wie es mir vorkam, wohl zum tausendsten Mal.
    Meine Füße waren schwer, als ich zu den Krügen hinüberging, die Carolans Assistenten mit frischem, heißem Wasser gefüllt hielten. Ich streckte meine Hände aus, und einer der Assistenten goss mir Wasser darüber, ein anderer träufelte mir Seife auf meine gerissenen Handflächen. Während ich meine Hände rieb, beobachtete ich Carolan, der zielstrebig von einem Bett zum nächsten ging. Seine Bewegungen waren ruhig und sicher. Er schien unermüdlich zu sein.
    Ich trocknete mir die Hände ab, streckte mich, rollte meinen Kopf von einer Seite auf die andere, um meine verspannten Nackenmuskeln zu lockern. Verdammt, meine Schultern brachten mich um. Ich hörte, wie eine schwache Stimme meinen Namen rief, und antwortete automatisch mit „Ich bin gleich da“, aber ich konnte meinen Körper nicht dazu kriegen, sich zu bewegen. Mein Magen knurrte, und ich fragte mich, wie lange es her war, dass die beiden Assistenten von Carolan uns etwas Käse, Brot und kalten Braten gebracht hatten. Der Käse war in Herzform geschnitten gewesen, und Carolan und ich hatten laut über Alannas Geschenk an ihn lachen müssen.
    Jetzt konnte ich nur noch darüber staunen, dass ich in der Lage gewesen war zu lachen. Die Erschöpfung zerrte an mir – und nicht nur die rein körperliche Anstrengung. Ich war auch geistig überfordert. Hier stand ich also und versuchte, ernsthaft kranke Menschen zu trösten. Ich – eine Englischlehrerin aus Oklahoma. Und sie glaubten mir. Sie wollten sogar von mir gesegnet werden.
    Ihnen Geschichten erzählen, ja. Gedichte vortragen auch. Sogar die symbolische Bedeutung von Coleridges obskursten Texten würde ich ihnen erklären – aber eine Göttin oder Priesterin sein? Nein.
    Ich fühlte mich hilflos, unzulänglich und den Tränen untypisch nah.
    „Göttin“, erklang eine Stimme aus der entfernten Ecke des Zimmers.
    „Mylady“, hörte ich Tarah aus dem Teil des Raumes rufen, wo wir die mittelschweren Fälle zusammengelegt hatten.
    „Lady Rhiannon.“ Eine weitere Stimme, die eines Kindes, aus dem Bereich der Schwerkranken.
    Ich raffte mich auf, schob mir einige Haarsträhnen aus dem Gesicht und versuchte, mich sowohl körperlich als auch geistig zu sammeln. Es war schrecklich. Es war, als wäre man in einem Raum mit lauter kranken Teenagern eingesperrt, die alle bettelten, ich solle ihnen helfen, ein komplexes algebraisches Problem zu lösen. Ich kann keine verdammte Algebra.
    Als ich mich langsam in Richtung der am kränklichsten klingenden Stimme aufmachte, erkannte ich, dass es genau das war. Sie waren wie meine Schüler. Und ich musste endlich aufhören, in Selbstmitleid zu baden, und stattdessen tun, was getan werden musste.
    Dann mochte ich es halt nicht, eine Krankenschwester zu sein. Na und? Entscheidend war, dass ich diese grausame Krankheit nicht bekommen konnte.
    Die Menschen hier gehörten zu mir. Ich war für sie verantwortlich. In loco parentis war mehr als nur ein abstrakter Begriff. Gerade ich als Lehrerin hatte mich

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