Ausersehen
Ich glaube, dass alle an derselben Krankheit leiden. Sie entwickelt sich in drei deutlich unterschiedlichen Phasen.“ Er zeigte auf das erste Mädchen, das er untersucht hatte. „Die erste Phase scheint von hohem Fieber, Kopf- und Rückenschmerzen und Erbrechen begleitet zu werden.“ Er deutete auf Tarah und fuhr fort: „Einige Tage später lässt das Fieber nach, und der Ausschlag beginnt. Er scheint sich vom Gesicht über den Körper bis zu den Händen und Füßen auszubreiten.“ Er nickte in Richtung einer Ansammlung von Betten, die von Kindern belegt waren. „Der Ausschlag wird zu Blasen, die sich mit Eiter und Ausfluss füllen. Das Fieber kehrt zurück und führt ins Delirium. Diese Phase ist gefährlich und tödlich. Diese Kinder dehydrieren. Bei einigen schließen sich die Kehlen. Das sind nicht die Windpocken aus unserer Kindheit, die ein unangenehmes Jucken mit sich bringen und nur für die sehr Jungen oder sehr Alten gefährlich sind. Viele dieser Mädchen und Frauen waren jung und stark – aber jetzt sind sie lebensbedrohlich erkrankt.“
„Pocken.“ Das Wort schoss mir aus den Tiefen meines Gedächtnisses durch den Kopf. Wer in Oklahoma aufgewachsen war, kannte die grausame Geschichte der eingeborenen Indianer, von denen ganze Stämme durch die Pocken ausgerottet worden waren. Ohne wirklich darüber nachzudenken, berührte ich die alte Impfnarbe an meinem Oberarm. Mein Magen flatterte ängstlich.
„Was sind Pocken?“, fragte Carolan.
„Ich weiß nicht viel darüber. In meiner Welt, oder zumindest in dem zivilisierten Teil meiner Welt, sind sie ausgerottet. Nach dem, was ich weiß, könnte das hier eine ähnliche Krankheit sein.“ Ich schaute ihn deprimiert an.
„Kannst du mir irgendetwas erzählen, was mir weiterhilft?“
Ich durchsuchte mein Gehirn und wünschte, der Biologieunterricht am College wäre nicht schon über zehn Jahre her.
„Unter normalen Umständen, also wenn ein Volk in Abständen von den Pocken heimgesucht wird, töten sie die sehr Jungen und die, die alt oder schon krank sind. Wenn aber ein Land oder ein Volk noch nie mit den Pocken in Berührung gekommen ist, kann es davon ausgelöscht werden; ungefähr fünfundneunzig von einhundert Angesteckten sterben an ihnen. Sie sind wie eine Plage.“ Meine Erinnerungen machten mich nur noch nervöser. „Hat es diese Krankheit jemals zuvor in Partholon gegeben?“
Carolan strich sich nachdenklich über das Kinn. „Mir scheint, ich habe einige Aufzeichnungen darüber, dass bei dem Volk, das in der Nähe der Ufasach-Sümpfe lebt, immer wieder mal Pocken aufgetaucht sind, aber es handelt sich um ein seltsames, sehr zurückgezogen lebendes Volk, das niemals Hilfe von außerhalb erbitten würde, daher sind die Aufzeichnungen nicht sehr umfangreich.“
Mir kam ein Gedanke. „Alanna, du sagtest, die Mädchen wären krank aus der Klausur zurückgekommen, richtig?“
„Ja“, bestätigte sie.
„Wo liegt diese Klausur?“
„Es ist der Tempel der Musen.“
„Liegt der nicht in der Nähe der Sümpfe?“ Ich versuchte, mir die Landkarte vorzustellen.
„Ja“, erwiderte Carolan. „Die Sumpflandschaft bildet die malerische südliche Grenze der Tempelanlage.“
„Ich wette, dass dort der Ursprung der Krankheit liegt. Was bedeutet, dass die Musen sich sehr wahrscheinlich mit den gleichen Problemen herumschlagen, die wir hier haben.“ Ich wühlte weiter in meinem Gedächtnis (wo ich alte, bruchstückhafte Gedichte und Romane fand) und versuchte, mich an alles zu erinnern, was ich je über die Pocken gehört hatte.
„Oh Gott.“ Ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn, verärgert, dass mir das Schlimmste an den Pocken jetzt erst wieder einfiel. „Sie sind sehr ansteckend. Und zwar sowohl durch Körperflüssigkeit als auch durch Hautkontakt. Wenn man im selben Bettzeug schläft, in dem ein Infizierter geschlafen und geschwitzt hat oder Ähnlicher, bekommt man die Krankheit. Oder wenn man aus derselben Tasse trinkt. Jeder, der sich um einen Kranken kümmert, läuft Gefahr, sich anzustecken.“ Kurz überlegte ich, ob sich das Thema Keime hier schon durchgesetzt hatte. Die Erinnerung an Carolan, wie er nach frischem Wasser und Seife rief, damit er zwischen zwei Untersuchungen seine Hände waschen konnte, beruhigte mich etwas.
„Dann müsst ihr, du und Alanna, euch von den Kranken fernhalten.“
„Du hast recht.“ Ich schaute Alanna an. „Du musst das Krankenzimmer meiden. Du bist den Erregern schon viel zu
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