Ausersehen
Körner und das Gemüse. Es schien, als wären Zentauren Omnivoren. (Kleine Notiz für mich: vorsichtig sein, er isst Fleisch und beißt.)
Ich denke, er bemerkte meine Blicke, denn sein Mund verzog sich zu einem süffisanten Lächeln, als er verkündete: „Ein guter Appetit ist ein Zeichen für baldige Genesung.“
„Ich danke Ihnen, Doktor ClanFintan.“
Man hätte meinen können, ich hätte Milch aus der Nase gesprüht, so wie er mich nach meiner geflüsterten Antwort anstarrte. Sein Blick ließ mich kurz überlegen, ob ich irgendetwas zwischen den Zähnen stecken hatte.
„Sie wissen, dass ich kein Arzt bin. Ich bin ein spiritueller Hoher Schamane.“
Ich musste erst ein Stück Hühnchen hinunterschlucken, bevor ich eine Antwort flüstern konnte. „Ich habe nur einen Scherz gemacht.“
„Oh. Ich … oh …“
Nun schaute er mich aus zusammengekniffenen Augen an, und ich schwöre, ich hörte ihn pferdegleich schnauben, bevor er sich wieder seinem Essen widmete. So langsam dachte ich, dass Rhiannon anscheinend überhaupt keinen Sinn für Humor hatte.
„Mylady, Mylord und sehr verehrte Gäste. Um die Zustimmung der Musen zu Ihrer Handfeste zu demonstrieren, wird Terpsichore, die inkarnierte Muse des Tanzes, nun für Sie auftreten.“
Die Ohren aller Zentauren richteten sich auf (natürlich nur im übertragenen Sinne), als Alanna in die Hände klatschte und Musik einsetzte. Ich hatte die drei Frauen, die am anderen Ende des Saales saßen, bisher nicht bemerkt, aber der seidige Klang von Harfe, Flöte und einer an Herzschläge erinnernden Trommel war betörend. Durch die den Musikern am nächsten liegende Tür trat die Tänzerin ein. Mit der Grazie einer Ballerina, den Kopf gesenkt, die Arme wunderschön erhoben, bewegte sie sich in die Mitte des Raumes, die sich natürlich direkt vor meiner Chaiselongue befand. Hohepriesterin zu sein bedeutete offensichtlich, immer den besten Platz im Haus zu haben. Vor uns versank sie mit immer noch gesenktem Kopf in einen tiefen Hofknicks, während die Musik pausierte. Dann ertönte die Melodie wieder, und mit dem ersten Ton hob sie den Kopf. Ich hatte gerade einen Schluck Wein im Mund und prustete ihn (natürlich sehr vornehm) durch die Nase wieder aus. Zum Glück waren alle Augen auf die Tänzerin gerichtet, sodass mein Missgeschick unbemerkt blieb und ich meine Nase putzen und meine Fassung wiedergewinnen konnte.
Heiliges Kanonenrohr! Die Tänzerin war Michelle, eine Freundin, mit der ich seit zehn Jahren zusammen unterrichtete! Und jetzt war sie hier die Göttliche Inkarnation der Muse des Tanzes. Das passte wie die Faust aufs Auge. Michelle und ich lachten immer über das Paradoxon von zwei der drei Leidenschaften in ihrem Leben. Leidenschaft Nummer eins ist das Tanzen, Nummer zwei die Wissenschaft (sie mag Reptilien wirklich, was mich immer ein wenig beunruhigt hat, besonders, weil mein Klassenzimmer direkt neben ihrem liegt. Mindestens zwei bis drei Mal pro Schuljahr befreit sich eine Schlange aus ihrem Käfig und geht „verloren“). Also hat sie diese beiden ersten Leidenschaften kombiniert, indem sie mit einem Tanzstipendium an der Northeastern Oklahoma University Chemie studiert hat. An unserer Highschool kombiniert sie sie, indem sie Chemie unterrichtet und nebenbei die Choreografien für die Schulmusicals übernimmt. Seltsames Mädchen.
Ich schaute zu, wie sie sich träge im Takt der sinnlichen Musik bewegte, trank noch einen Schluck Wein und schenkte der kleinen Dienerin ein dankbares Lächeln, die den Kelch sofort wieder auffüllte. Kein Zweifel – bei der Tänzerin handelte es sich um Michelle. Oder eher – wie Alanna es sicher nennen würde – um ihr Spiegelbild. Die gleichen dicken, dunklen Haare, deren moderner, schulterlanger Schnitt in meiner Welt genau wie bei Alanna einer hüftlangen Mähne gewichen war, die bei jeder ihrer Bewegungen wogte und im Licht der Kerzen schimmerte – und ihren kleinen Tänzerinnenkörper weitaus mehr bedeckte als das total durchsichtige Stückchen Stoff, das sie trug und das bei jeder Drehung verführerische Ansichten ihres straffen Körpers gewährte. Sie war schon immer schlank und wunderschön gewesen, obwohl sie aß wie ein Spatz – nämlich pro Tag das Zehnfache ihres Körpergewichts. Sie ist der einzige Mensch, den ich kenne, der jeden Tag in der Mensa mittags ein komplettes Hauptgericht, das mit allen der Menschheit bekannten Fetten und Kohlehydraten vollgestopft ist, essen kann und weder fürchterlich
Weitere Kostenlose Bücher