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Ausersehen

Ausersehen

Titel: Ausersehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. C. Cast
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fühlen?
    Plötzlich war es für mich kein Traum mehr. Hier und jetzt wurde der sich ausbreitende Horror zur Realität.
    Als würde mein Körper auf meine Gedanken reagieren, schwebte ich näher an die dunkle Linie heran. Ich hatte Angst, aber ich war auch neugierig und wollte verstehen, was hier passierte. Ich sah, wie die ersten dunklen Flecken durch die Bäume brachen, und schwebte näher.
    Auf den ersten Blick sahen sie aus wie große Männer, die dunkle, flatternde Mäntel trugen. Sie schienen mit erstaunlich lang ausgreifenden Schritten zu laufen und sprangen wie ein Weitspringer bei einer Leichtathletikveranstaltung. Nur dass sie nicht auf zwei Füßen landeten und dann hinfielen, sondern einfach weiterliefen. Diese seltsame Art der Fortbewegung brachte sie mit enormer Geschwindigkeit voran und verlieh ihnen den Anschein, als würden sie gleiten und nicht einen Fuß vor den anderen setzen.
    Als wären sie keine lebenden Wesen, sondern Schemen und Schatten des Todes.
    Sie kamen näher, und ihre langen, hinter ihnen herflatternden Mäntel fesselten meine Aufmerksamkeit. Ich beobachtete, wie sie sich in der Strömung des Windes bewegten, den sie mit ihrer Bewegung selbst verursachten. Mehr und mehr von ihnen strömten aus dem Wald, und ich erkannte, dass das, was ich für Mäntel gehalten hatte, in Wirklichkeit Flügel waren. Unglaublich große, schwarze Flügel, die sich im Wind blähten und den eigenartigen, gleitenden Lauf der Kreaturen unterstützten.
    Ein Schauer des Ekels schüttelte meinen schwebenden Körper. Es mussten Hunderte sein. Sie wirkten wie räuberische menschliche Fledermäuse oder gigantische menschliche Kakerlaken. Langsam gelang es mir, einzelne Individuen auszumachen. Nur ihre Flügel waren schwarz, und weil sie so lang und weit ausgebreitet waren, wirkte die gesamte Menge schwarz. Tatsächlich waren ihre Körper unter den Flügeln aber von einem beinahe durchscheinenden Weiß. Abgesehen von einem Lendenschurz waren sie nackt. Ihre dünnen Körper sahen aus wie Skelette. Ihre Haare waren sehr hell, von blond über silbern bis zu weiß. Ihre Arme und Beine waren unverhältnismäßig lang, als hätte man Menschen mit Spinnen gekreuzt, aber sie waren definitiv humanoid. Sie hatten die Gesichter von Menschen – grausamen, entschlossenen Menschen.
    Eine Strophe aus einem von Bobby Burns Gedichten schoss mir durch den Kopf:
    Verwoben sind mit unsrem Leib
    So zahlreiche Gebrechen;
    Doch schärfen wir noch unsern Schmerz
    Wenn Reu und Scham uns stechen.
    Der Mensch, den, wie er aufwärts blickt,
    Der Liebe Lächeln schmückt,
    Der Mensch hat mit Unmenschlichkeit
    Schon Tausende bedrückt.
    Ich konnte meinen Blick nicht von ihnen abwenden, als sie sich wie ein hoch ansteckendes Virus um das unbewachte Tor unter mir verteilten. Sie strömten in die Burg, still und tödlich. Die Würfelspieler bemerkten sie nicht. Es wurden keine Türen geschlossen oder Fenster geöffnet. Stille. Stille. Stille.
    Ich konnte sie fühlen. Irgendwie konnte ich spüren, was sie mit sich brachten. Ich konnte nicht sehen, was in den vielen Räumen unter mir passierte, aber ich konnte den Terror und die Schmerzen fühlen, die sich in der Burg ausbreiteten wie Krebsgeschwüre in einem kranken Körper.
    Verzweifelt suchte ich jemanden, den ich warnen konnte. Mein umherirrender Körper trieb in eine andere Richtung. Dieses Mal brachte er mich zu dem einsamen Mann, der immer noch auf dem Beobachtungsposten stand. Im Näherkommen erkannte ich vertraute Züge.
    Oh mein Gott. Mir stockte der Atem.
    „Dad!“
    Beim Klang meiner Stimme drehte er sich um, und als er sich auf der Suche nach mir umschaute, konnte ich ihn im Mondlicht deutlich erkennen. Es war mein Vater. Verdammter Spiegelbildmist! Verdammter Alternative-Welt-Müll! Dieser Mann war mein Vater.
    Obwohl er schon Mitte fünfzig war, sah man seinem Körper an, dass er Footballspieler gewesen war. Einer meiner Cousins hatte mir mal erzählt, dass er als Kind gedacht hätte, mein Vater sei der stärkste Mann, von dem er je gehört hatte – und jetzt, da er erwachsen war, sei er sich seiner Sache sicher. Vielleicht hatte er tatsächlich recht. Nicht dass Dad ein besonders großer Mann war, vielleicht knapp eins achtzig. Damals, auf seiner kleinen Dorf-Highschool, hatte man ihm gesagt, er sei nicht groß genug, um an einer namhaften Universität wie Illinois Football zu spielen, aber sie hatten nicht mit seiner Hartnäckigkeit gerechnet. Wie eine kleine böse Bulldogge war

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