Auserwählt – Die Linie der Ewigen (German Edition)
großem Schaden, indem sie in Extremsituationen ganz simple Alltagsabläufe abrief. Und in so einer Extremsituation rief man normalerweise um Hilfe.
Mein pinkfarbenes Telefon hatte ich auf der Kommode neben meinem Bett drapiert. Ich wollte gerade danach greifen und Franziskas Nummer wählen, als mein Blick auf das Bett fiel.
Darauf lag ein Foto. Zumindest nahm ich an, dass es ein Foto war, es lag mit dem Gesicht nach unten, und nur die weiße Rückseite leuchtete mir entgegen. Eigentlich hätte ich in diesem Moment erneut Angst bekommen müssen, doch die Trauer um Victor und mein auf Hochtouren arbeitender Seelenschutz hatten meine Gefühle so gut in einen Schrank fernab aller Antastbarkeit geschlossen, dass ich beinahe teilnahmslos nach dem Bild griff, ungeachtet meiner blutverschmierten Finger. Ich drehte es auf den Rücken und konnte mir zunächst keinen Reim darauf machen, was sich mir da offenbarte.
Es war eine Schwarz-Weiß-Fotografie, offenbar aus einiger Entfernung mit einem Teleobjektiv aufgenommen. Ich musste es mir näher vor meine vom Heulen überreizten Augen halten, um das Motiv zu erkennen. Was ich sah, versetzte mir einen Stich.
Das Foto war eine Aufnahme von Daron und mir vor meiner Haustür. Es zeigte uns in einer Umarmung, wie wir uns gegenseitig anstrahlten mit dem gewissen Lächeln, das nur Verliebten nach einer Nacht voller Hingabe vorbehalten war. Es war eine wirklich wunderschöne Momentaufnahme unserer Zuneigung, und wäre mir zu diesem Zeitpunkt nicht längst klar gewesen, was das zu bedeuten hatte, hätte ich es eingerahmt und für alle Zeit auf meinem Nachttisch aufgestellt.
Ich wusste nicht, wer uns da aufgenommen hatte.
Es interessierte mich auch nicht weiter.
Ich wusste in diesem Augenblick nur, dass ich nicht mehr allein im Zimmer war.
Ich drückte die Aufnahme an mein Herz, schloss die Augen und atmete tief ein.
„Du hast mich also gefunden“, sprach ich einfach in den Raum hinein und wartete erstaunlich ruhig auf eine Antwort.
„Hast du denn je daran gezweifelt?“, vernahm ich Maels kristallene Stimme hinter mir. Gänsehaut rieselte mir wie feiner Sprühregen über den Rücken, und als der Schlag mich auf den Hinterkopf traf, war ich noch im Verlust meines Bewusstseins dankbar dafür, mich nicht umgedreht zu haben.
39
Ich vernahm ein leises Piepsen, das in regelmäßigen Abständen immer wiederkehrte und umso lauter wurde, je mehr ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren. Durch die Anstrengung verspürte ich einen höllisch scharfen Schmerz in meinem Hinterkopf und wollte noch mit geschlossenen Augen reflexartig an die betroffene Stelle greifen. Doch meine Arme gehorchten mir nicht.
Langsam öffnete ich die Augen und musste wegen der Helligkeit, die mir entgegenstrahlte, mehrmals verkniffen blinzeln. Als ich versuchte, meinen Kopf zur Seite zu drehen, wurde mir schlagartig schlecht, und ehe ich es verhindern konnte, kotzte ich einen großen Schwall Galle aus. Bittere Säure verätzte meinen Hals und hinterließ nichts als diesen stechenden Geschmack von Magen in meinem Mund. Noch zweimal veranlasste mich mein Körper zu würgen, sodass mir der Schmerz Tränen in die Augen trieb. Ich hasste es, mich zu übergeben. Und Übergeben mit Kopfschmerzen hasste ich eindeutig noch mehr.
„Na, na, wer wird denn jetzt schon schlappmachen, wo der ganze Spaß noch nicht mal angefangen hat?“, hörte ich eine helle männliche Stimme in einiger Entfernung säuseln und versuchte, durch meine verwässerten Augen hindurch etwas zu erkennen. Mael stand am Fußende meines Bettes und grinste selbstsicher auf mich herab.
Moment.
Mein Bett?
Ich strengte mich an, die Umgebung zu erkennen, und suchte nach diversen Anhaltspunkten. Als ich unter unsagbarer Übelkeit meinen Kopf zur anderen Seite drehte, war mir, als würde mein Herz aussetzen.
Im Bett links neben mir lag Daron, Arme und Beine mit Gurten an den Rahmen gefesselt. Langsam hob und senkte sich seine nackte Brust, an der diverse Kabel mit Pads festgeklebt waren, in einem flachen, regelmäßigen Rhythmus. Auch sein Kopf war mehrfach verdrahtet mit der großen, grauen Apparatur hinter ihm, auf deren Bildschirm ich die Sinuswellen seines Herzens verfolgen konnte. Er sah so friedlich aus, wie er da lag, sein muskulöser Körper eingerahmt vom Fluss seiner langen, schwarzen Haare. Seine Haut wirkte noch bleicher als sonst. Eine Faust schloss sich um mein Herz und drückte zu. Ich wollte zu ihm, wollte ihn umarmen und ihm sagen,
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