Auserwählt – Die Linie der Ewigen (German Edition)
etwas zu viel gefeiert?“
„Nein, Harry, ausnahmsweise nicht. Du weißt ja, sonst lasse ich nie eine Party sausen, aber gestern und heute plagen mich einfach nur simple Kopfschmerzen.“
Das war natürlich nur die halbe Wahrheit. Harry wusste, dass ich mich lieber mit einem guten Buch auf die Couch verzog, anstatt in knappen Minis durch enge, verrauchte Bars zu hüpfen und – auf Neudeutsch – einer „Stehfickparty“ beizuwohnen. Hätte ich ihm erzählt, wo ich gestern Nacht tatsächlich gewesen war, er hätte mir das nie geglaubt. Mal ganz abgesehen davon, dass ihn das sowieso gar nichts anging. Man sollte Berufliches und Privates ja immer schön voneinander trennen.
„Na, dann wünsche ich dir mal gute Besserung. Hat der Chef dich schon gesehen?“
„Ja, ich werde gleich heimgehen, und du hast heute die Ehre, mein krönender Abschluss zu sein.“
„Ach, wärst du doch nur woanders auch so zuvorkommend.“
Harry war ein Schwerenöter. Ich hatte ihn bereits mehrere Male auf diversen Firmenveranstaltungen getroffen – ein sehr gut aussehender Mann, Typ Sonnyboy mit dem gewissen Etwas. Das Problem war nur: Er wusste das. Und hatte damit schon so manche Frau aus unserer Etage herumgekriegt. Nur mich nicht. Denn ich hatte ihn sofort durchschaut, als er mir bei unserem ersten Kennenlernen gleich zu eng auf die Pelle gerückt war und frech gefragt hatte, ob er mir erst einen ausgeben müsse oder ob wir gleich zur Sache kommen könnten. Darauf hatte ich ihn gelangweilt von oben bis unten gemustert und lapidar mit einem desinteressierten Lächeln entgegnet, er habe sich wohl in der Etage geirrt: Die Bingoparty der Senioren würde ein Stockwerk tiefer stattfinden. Er hatte daraufhin so sehr gelacht, dass ihm sein Bier aus der Nase geschossen war. Das wiederum hatte mich zum Lachen gebracht. Seitdem respektierte er mich, und ich kam prima mit seinen manchmal nicht ganz jugendfreien Sprüchen klar.
„Nur in deinen Träumen, Harry“, erwiderte ich lächelnd. „Verrate mir lieber, was für einen Bock du gestern wieder geschossen hast.“
Schnell erledigten wir das Geschäftliche, denn eines konnte man Harry nicht vorwerfen – Schlampigkeit. Sicher machte er wie jeder andere auch Fehler, hatte aber die Professionalität, sie zu beheben. Wenn man im Gegenzug mal etwas von ihm brauchte, konnte man sicher gehen, Harry würde sich im Handumdrehen drum kümmern. Nachdem wir die betreffende Lieferung Zigaretten aus dem falschen Kiosk aus- und in den richtigen eingebucht hatten, fragte mich Harry, ob ich die nächsten zwei Wochen arbeiten würde. Er würde in dieser Zeit mal in der Stadt sein und gern bei mir vorbeischauen. Er hatte sich eine neue Kamera bei seinem Stammhändler gekauft, einem kleinen Fotoladen in der Lehnartstraße. Dort war er schon seit Ewigkeiten Kunde, denn in seiner Freizeit war Harry nicht nur leidenschaftlicher Schürzen-, sondern auch Fotomotivjäger. Dann ging er selten ohne sein „Baby“ aus dem Haus. Was mit seiner alten Kamera war – keine Ahnung; ich wusste nur, dass die neue so viel kostete, wie ich nicht mal in einem Monat verdiente. Ein nicht gerade billiges Hobby.
„Kein Problem, ich bin hier und warte säähnsüüüschtiiiiisch auf diiiiisch“, imitierte ich nicht ganz gekonnt eine tschechische Kioskbesitzerin, die er einmal bei einer seiner Touren kennengelernt hatte. Das war seitdem unser privater Running Gag. Wieso diese Dame stets so sehnsüchtig auf Harry wartete, das hatte ich dann aber doch nicht wissen wollen.
„Prima, Babe, dann komm ich einfach irgendwann auf einen Kaffee in deinem Büro vorbei. Ich freu mich!“, sagte er und legte auf.
Herzlich war er, der Harry, dagegen konnte man nichts sagen. Ich ordnete noch meine Papiere für die kommende Woche und hoffte, die Putzfrau würde sie nicht wie vor drei Tagen aus Versehen mit ihrem Besen vom Tisch fegen. Es hatte mich eine geschlagene Stunde gekostet, die ganzen Akten wieder richtig zu sortieren. Schnell verabschiedete ich mich noch von der gesamten Mannschaft und machte mich mit dem Bus auf den Weg nach Hause. Ob Sie es glauben oder nicht, ich war sogar so müde, dass ich an der Haltestelle nicht einmal zu meiner Pappel blickte. Das, was sich gestern darunter befunden hatte, würde sich heute Abend sowieso auf meiner Couch niederlassen. Doch bevor die Kolibris bei dieser Erinnerung wieder anfangen konnten zu flattern, kam auch schon der Bus angefahren, und eine gestresste Mami rammte mir beim Aussteigen ihren
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