Auserwählt – Die Linie der Ewigen (German Edition)
war danach wieder in die Firma zurückgekehrt, um meine Arbeit zu übernehmen. Bis jetzt war ich ihr unendlich dankbar, dass sie in dieser schlimmsten Stunde meines Lebens das Denken für mich übernommen und einfach nur gehandelt hatte. Ohne Wenn und Aber. Das würde ich ihr nie vergessen. So hatten wir drei Frauen nun dort zusammengekauert gesessen und gebangt und gehofft, während Papa auf dem OP-Tisch lag. Gebangt, dass der Bus, der ihn erfasst, ihm nicht allzu schlimme Verletzungen beigebracht hatte, gehofft, dass wir Papa mit nur ein paar gebrochenen Knochen wiedersehen würden. Manchmal ist das Schicksal einfach grausam. Ein Busfahrer, der auf dem Fußweg zur Arbeit von einem Bus überfahren wird. Von einem Kollegen, der die Nacht vorher durchgesoffen hatte. Der später meiner Meinung nach viel zu milde wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden war. Doch egal, welches Strafmaß der Richter auch verhängt hätte, es hätte meinen Vater nicht mehr zurückgebracht.
Als der Arzt aus dem OP kam, hatte ich sofort gewusst, dass Papa es nicht geschafft hatte. Ich war sehr fixiert auf Augen und konnte ausgesprochen gut in ihnen lesen. In den Augen des Arztes hatte ich nur Trauer und Mitleid gesehen, bereits in dem Moment, in dem er sich den Mundschutz abgenommen hatte. Meine Mutter hatte einen hysterischen Schreikrampf erlitten. Betty und ich hatten geweint, uns aber genug zusammenreißen können, um meine Mama aufzufangen. Als ich gefragt hatte, ob wir Papa noch ein letztes Mal sehen durften, hatte der Arzt den Kopf geschüttelt.
„Tun Sie sich das nicht an und behalten Sie ihn so in Erinnerung, wie Sie ihn kannten. So bleibt er für immer in ihrem Herzen lebendig“, hatte er gesagt und zu Boden geblickt. Fünf Sekunden später hatte ich mich in die Topfpflanze auf dem Flur übergeben.
Eine Berührung ließ mich aus meiner Erinnerung hochschrecken. Ich sah auf und realisierte Daron, wie er eine Hand auf meine Schulter gelegt hatte.
„Einen Penny für deine Gedanken“, meinte er sanft und setzte einen teils mitfühlenden, teils neugierigen Sorgenblick auf.
„Keinen Penny“, erwiderte ich lächelnd und wusste, dass er all meine Gedanken umsonst bekommen konnte. „Ich dachte gerade an meinen Vater und daran, wie gern er Rotwein trank.“
„Was ist passiert?“, fragte Daron und strich sich abermals eine Strähne hinter sein rechtes Ohr.
„Ein Unfall. Er war Busfahrer und wurde von einem Bus überfahren.“
Da musste ich selbst kurz hysterisch loslachen, fing mich aber recht schnell wieder.
„Entschuldige bitte, das ist nicht lustig. Aber wenn ich es so sehe, dann drängt sich mir der Gedanke auf, dass das Leben manchmal richtig gemein sein kann. Oder der Tod. Je nachdem, wie man es sieht.“
Daron sagte kein Wort. Er sah mich nur mit diesen unglaublich grünen Augen an, und erneut war mir, als würde sich ein Schatten über sie legen. Sein Arm legte sich ganz um meine Schulter und zog mich an seine Brust. Diese starke, durchtrainierte Brust, die mir in diesem Moment wie ein Schutzwall erschien. Ein Schutzwall gegen schmerzhafte Erinnerungen. „Es tut mir sehr, sehr leid, dass du das erleben musstest.“ Ich spürte einen Hauch von Traurigkeit in seiner Stimme und begriff, dass ihn meine Geschichte wirklich aufrichtig betroffen gemacht hatte.
„Das muss es nicht“, erwiderte ich an ihn gekuschelt, „du kannst doch nichts dafür.“
Bei diesen Worten versteifte er sich leicht. Erneut spürte ich einen kalten Hauch durch die Wohnung ziehen, der mich erzittern ließ.
„Verdammt“, fluchte ich und rieb mir die Arme, „gleich am Montag telefoniere ich mit der Hausverwaltung und lasse die Fensterisolierung überprüfen.“
„Ja … die Isolierung“, stammelte Daron, und da vernahm ich etwas in seiner Stimme, das vorher noch nicht da gewesen war.
Unsicherheit.
Und Angst.
Pure, nackte Angst.
Doch wovor? Ich löste mich aus seiner schützenden Umarmung und blickte ihm erneut ins Gesicht.
„Was ist los, Daron? Und sag mir nicht, da sei nichts. Ich sehe es in deinen Augen und merke, wie du dich versteifst. Irgendwas hast du.“ Diesmal war ich diejenige, die die Stirn in Falten legte, wenn auch nicht aus Sorge, sondern vielmehr aus Neugier und Unverständnis.
Nervös blickte Daron zur Seite und seufzte tief. Und während ich mich noch fragte, ob ich mit meiner Frage vielleicht verbotenes Terrain betreten hatte, antwortete er: „Es gibt so vieles, das ich dir erzählen möchte. Aber ich
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