Ausflug ins Gruene
ich näher kam, hörte ich auch, daß die Musik von nicht minder lautem Gesang begleitet wurde.
»Rote Lippen, roter Wein – ja, die Welt, sie ist so klein«, trällerte eine Frauenstimme und stellte dabei den eigentlichen Sänger in den Schatten. Da hatte ich es wohl mit einer eingefleischten WDR 4 – Hörerin zu tun. »Und wir zwei sind ganz allein«, schmetterte es mir entgegen, als ich gerade durch die offene Bürotür trat – Klopfen wäre sinnlos gewesen –.
»Guten Morgen«, sagte ich unsicher. Auf dem Boden kniete eine runde, grau gewandete Schwester mit üppigen Körpermaßen und packte Kopierpapier aus einem Karton in einen Schrank.
»Und wir zwei sind ganz allein–«
»Guten Morgen!« schrie ich diesmal, um die Musik und die holde Sängerin zu übertönen. Ihr Kopf schoß nach oben. Einen Augenblick lang dachte ich, die Sache sei ihr peinlich, weil sie so rot im Gesicht war, aber das war ein Irrtum. Die Arbeit und der Gesang schienen ihr das Blut in den Kopf getrieben zu haben. Die Schwester sagte etwas, das ich nicht verstand. Stöhnend hievte sie sich hoch und stellte das Transistorradio aus, das auf einem Regal deponiert war.
»Guten Morgen!« flötete mir die Sängerin entgegen, »kann ich etwas für Sie tun?«
»Ja, ich glaube schon«, antwortete ich, »mein Name ist Vincent Jakobs, ich bin bei Ihnen als Lehrer eingestellt worden.«
»Ach, Sie sind das? Herzlich willkommen!«, sagte die Schwester, »Ich bin Schwester Gertrudis, ich arbeite hier im Sekretariat.« Das runde Gesicht strahlte mich an. »Ich soll Ihnen etwas ausrichten. Schwester Wulfhilde hat gestern aus dem Urlaub angerufen. Sie möchten vielmals entschuldigen, aber sie hat vergessen, Ihnen die versprochenen Unterlagen zurechtzulegen.«
»Oh nein!«, stöhnte ich, »ich brauche unbedingt irgendetwas, um mich in den drei Ferienwochen auf den Unterricht vorbereiten zu können. Ich weiß ja gar nicht, was mich erwartet – welche Klassen, welcher Stoff – ich weiß wirklich überhaupt nichts.«
Schwester Gertrudis schaute mich verständnisvoll an. »Hm, was machen wir denn da? Ich glaube, ich rufe in dem Fall mal bei Herrn Radebach an. Er ist der stellvertretende Schulleiter. Er soll Ihnen alles Nötige raussuchen.«
Auf dem Weg zurück zu meiner Pension hatte ich die Zusicherung, am kommenden Tag »irgendwas« in meinem Fach zu finden. Immerhin. Schwester Gertrudis hatte den genervten Herrn Radebach mit ihrer süßlichsten Stimme dazu gebracht, sich darum zu kümmern. Am nächsten Tag sollte ich endlich mehr über meine Arbeit wissen. Ich überlegte, wie ich die Zeit bis dahin nutzen konnte. Natürlich könnte ich es mit der Wohnungsanzeige versuchen, bei der ich vorher niemanden erreicht hatte. Als ich bei den Dreisams ankam und mich ihr kleiner Dackel begrüßte, hatte ich aber eine viel bessere Idee.
7
Der Tag lief ganz erträglich. Am Morgen hatte sie ein paar Hausbesuche gehabt – Kälber, die geimpft werden mußten, und die Sprechstunde am Nachmittag war auch nicht überfüllt gewesen. Ein verletzter Cocker Spaniel, eine Katzenkastration, eine Routineuntersuchung bei einem verzogenen Spitz und und und. Um halb fünf verließ Karin, die Sprechstundenhilfe, mit einem geimpften Kaninchen das Behandlungszimmer, und Alexa warf einen Blick in die Heimatpost, um das Fernsehprogramm zu studieren. »Lustige Musikanten«, »Musikantenstadl«, »Wenn die Heide blüht« – man konnte den Eindruck haben, alle Sender hätten sich zusammengetan, um ein Heimatfestival durchzuziehen. Na ja, und dann natürlich noch der übliche Serienkram, bei dem Alexa dann meist hängen blieb. Mit einem Seufzer schloß sie die Zeitung, als sie Stimmen auf dem Flur hörte. Ob sie am Abend endlich mal die Briefe schreiben sollte, die sie schon so lange vor sich hergeschoben hatte? Oder ob sie für diesen dienstfreien Abend noch eine Verabredung organisieren sollte? Alexa blieb keine Zeit mehr zu überlegen, da Karin den nächsten Patienten hereinführte. Der Mann mit dem kleinen Rauhhaardackel kam Alexa sofort bekannt vor, doch ihr Gedächtnis arbeitete heute nicht gerade in Rekordzeit. »Guten Tag, Schnittler ist mein Name«, sagte sie routinemäßig und schüttelte seine Hand. Der Typ hätte dabei beinahe den Hund fallen lassen.
»Guten Tag, Vincent Jakobs.« Ein strahlendes Lächeln folgte, das Alexas Laune um etwa zwei Zentimeter hob. Nur ihr Gehirn schien leider auf Sparflamme zu arbeiten. Sie hatte doch sonst ein ganz gutes
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