Ausflug ins Gruene
erkannte den riesigen holzgetäfelten Raum wieder, den ich bei meiner Führung als ziemlich nobel empfunden hatte. An einem Regal am anderen Ende des Raums stand jemand mit dem Rücken zu mir. Ich räusperte mich so laut ich konnte. Die Person drehte sich um, und ich sah in das erschrockene Gesicht einer Frau, ungefähr in meinem Alter. Ich versuchte möglichst ungefährlich auszusehen, um nicht den Anschein zu erwecken, ich wolle zwanzig Mark aus der Kaffeekasse klauen.
»Guten Tag, ich bin Vincent Jakobs! Ich soll hier nach den Ferien Geschichte und Deutsch unterrichten.« Das Gesicht entspannte sich.
»Haben Sie mich aber erschreckt!«, sagte die Frau mit einer tiefen Stimme und kam auf mich zu. »Wissen Sie, man kennt sonst eigentlich jeden, der hier in der Schule rumläuft. Und wenn man jemanden nicht kennt, hat er meistens einen Arbeitskittel an und ist zu Handwerksarbeiten hier.«
»Dann bin ich natürlich verdächtig«, entgegnete ich, »soll ich mich ausweisen?« Mein Gegenüber lächelte.
»Nicht nötig. Ich glaube Ihnen auch so. Mein Name ist Roswitha Breding, Bio und Mathe.« Roswitha streckte mir freundlich eine Hand entgegen. Als sie meine Hand drückte, ging ich beinahe in die Knie. Wie Schwester Dorothea war Roswitha ganz offensichtlich von der kernigen Sorte. Sie war nicht allzu groß, aber kräftig und trug ihr dunkelblondes Haar in einem Kurzhaarschnitt.
»Sie sind bestimmt der Nachfolger von Bruno Langensiep, oder?«
»Bis gestern wußte ich zwar auch noch nichts davon. Aber es scheint so zu sein.«
»Eine ziemlich tragische Geschichte.«
»Und eine geheimnisvolle obendrein«, setzte ich hinzu. »Schwester Dorothea deutete gestern an, daß sie sich durchaus auch einen Mord vorstellen könnte.«
»Einen Mord?« Roswitha platzte heraus. »Da lachen ja die Hühner! In dieser Stadt gehören Kirchenaustritte und wilde Ehen zu den spektakulärsten Ereignissen des Jahres. Ein Mord ist hier einfach undenkbar.« Als gewiefter Krimileser wollte ich meiner neuen Kollegin gerade mitteilen, daß die meisten Morde in malerischen Pfarreien und auf einsam gelegenen Landsitzen passieren und daß ich mir auch ihre geschätzte Stadt durchaus als Ort des Verbrechens vorstellen könnte, doch Roswitha Breding ließ mich nicht zu Wort kommen.
»Wenn Sie mich fragen oder besser – wenn du mich fragst – wir duzen uns nämlich unter den jungen Kollegen – dann leidet Schwester Dorothea unter Schüben übersteigerter Phantasie. Sie liest eindeutig zu viele Krimis. Aber die sind ja als Alternative zur Bibel auch eine gelungene Abwechslung.«
»Was war dieser Langensiep denn für ein Mensch?« Nachdem ich schon einmal mit Friederike Glöckner darüber gesprochen hatte, interessierte mich diesmal das Urteil einer Kollegin. »Warst du mit ihm näher bekannt?«
»Mit Langensiep? Gott bewahre! Im Vertrauen, der Typ war ein wirkliches Ekel. Er machte Kollegen runter, wo er nur konnte, schaffte es aber andererseits, sich bei der Schulleitung lieb Kind zu machen. Ein wirklich unangenehmer Mensch, mit dem keiner im Kollegium viel zu tun hatte. Wenn es danach ginge, könnte ich mir schon vorstellen, daß ein Mord möglich wäre. Aber wechseln wir lieber das Thema.«
»Ja, vielleicht kannst du mir helfen«, lenkte ich ein. »Hast du eine Ahnung, wo ich Sachen finden kann, die für mich hinterlegt worden sind?«
»Die müßten in den namenlosen Fächern liegen«, antwortete Roswitha und steuerte auf die Wand mit einer Unmenge von Fächern zu. »Hier werden die Sachen für alle reingelegt, die kein festes Fach haben oder noch eins bekommen sollen – Referendare und so.« Roswitha stöberte durch die Blätter, die in drei unbeschrifteten Fächern abgelegt waren. »Hier ist nichts.« Sie ließ ihren Blick über die restlichen Fächer schweifen. »Ah, man hat dir schon ein eigenes Fach eingerichtet.« Roswitha hatte recht. ’JAKOBS’ stand in dicken handgeschriebenen Lettern auf einem Papieraufkleber. Leider war das Fach absolut leer.
»Hm, ich will ja nicht unken«, sagte Roswitha grinsend, »aber ich schätze, Wulfhilde hat dich einfach vergessen. Das kommt schon mal vor, wenn sie auf Fahrt geht. Am besten fragst du mal bei Schwester Gertrudis nach. Sie arbeitet im Sekretariat und hat den besten Überblick.«
Enttäuscht verabschiedete ich mich von Roswitha und machte mich wieder auf den Weg zum Sekretariat. Es fiel nicht schwer, den Weg zurückzufinden, denn die Musik schallte mir schon im Treppenhaus entgegen. Als
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