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Ausflug ins Gruene

Ausflug ins Gruene

Titel: Ausflug ins Gruene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Heinrichs
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unordentlich. Das meiste dürfte er wohl selbst zu diesem Chaos beigetragen haben.«
    »Bei mir sieht’s schlimmer aus«, warf ich ein.
    »Ich war seit seinem Tod kaum mehr hier drin«, sagte Regine leise, »hier werde ich wohl ganz zum Schluß aufräumen.«
    »Ich finde mich schon zurecht«, sagte ich und ging zielstrebig auf ein Geschichtsbuch zu, das mir bekannt vorkam.
    »Die Unterlagen für die Unterrichtsvorbereitung werden ja vielleicht noch beisammenliegen.«
    »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, gehe ich nach oben und miste weiter aus«, schlug Regine vor. »Wenn Sie mich brauchen, rufen Sie mich.«
    Ich ließ mich auf dem behäbigen Lederstuhl nieder und blickte unweigerlich auf ein Foto, das in einem goldenen Bilderrahmen auf dem Schreibtisch stand. Das Ehepaar Langensiep zweifelsohne. Er, groß und dünn mit ziemlich lichtem Haar und Brille. Nicht gerade der Mann, den ich mir bei solch einer attraktiven Frau vorgestellt hatte. Er wirkte ernst, ja, er machte auf mich sogar einen ausgesprochen humorlosen Eindruck. Er hatte seinen Arm durch den seiner Frau geschoben. Sie, Regine, schaute zur Seite. Sie lächelte, wirkte aber trotzdem distanziert. Ich blickte lange auf das Bild und stellte es dann seufzend weg. Arbeitsam zog ich den Stapel mit Papieren heran, den ich zuerst durchschauen wollte. Leider war Bruno Langensiep beileibe kein Pedant gewesen. Es fanden sich zwar nach einigem Suchen Mappen, die bestimmten Klassen zugeordnet waren, doch waren daraus offenbar etliche Blätter zum Kopieren entnommen worden, die nun verstreut herumlagen. Ich machte mir auf dem Fußboden Platz und ordnete alles Brauchbare verschiedenen Stapeln zu. Zwischendurch vertiefte ich mich in ein paar Texte, weil es mich interessierte, was für einen Unterricht mein Vorgänger gemacht hatte. Anmerkungen zu Max von der Grüns Vorstadtkrokodile, wahrscheinlich Stoff der fünften oder sechsten Klasse. Kurzgeschichten von Gabriele Wohmann. Klasse 9 oder 10, schätzte ich. Barocke Lyrik, wahrscheinlich für die Stufe 11. Gryphius, natürlich. Ein paar eingesammelte Hausaufgabenblätter als Interpretation zu einer Barockparodie. Dazwischen eine Zahnarztrechnung von einem Dr. Braun. Dann ein paar getippte Seiten über Rechtschreibregeln. Ein paar Sachen waren mit einem Textmarker gekennzeichnet worden. Ich überflog den Inhalt, bis ich unter den Regeln eine handschriftliche Notiz entdeckte: Auf Leben und Tod. Entscheidung bis März. Sonst Ende. Ich stockte. Auf Leben und Tod. Was das wohl zu bedeuten hatte? Ob Bruno Langensiep seinen Unfall im vorhinein erahnt hatte? Spiritistische Sitzungen fegten mir durch den Kopf, bis ich mich selbst zur Vernunft rief. Dann kam mir ein anderer Gedanke. »Sonst Ende« – ob der Sonst-Fall vielleicht eingetreten war? Kurz: Hatte mein Vorgänger Selbstmord begangen, weil irgendetwas nicht eingetroffen war, wie er es erhofft hatte? Tausend Dinge waren möglich. Vielleicht war Langensiep bedroht worden und diese Notiz deutete auf einen Mord hin. Ich fragte mich, ob die Polizei auf diese Aufzeichnungen gestoßen war. Natürlich, sagte ich mir. Schließlich war es ihr Job, solche Dinge zu untersuchen. Andererseits waren diese paar Worte inmitten der Unterrichtsunterlagen mehr als unauffällig. Neugierig geworden blätterte ich weiter in den Papieren. Die Sachthemen interessierten mich nun nur noch am Rande. Ich schaute vor allem nach handschriftlichen Bemerkungen. Bruno Langensiep schien öfter banale Alltäglichkeiten auf seine Arbeitsblätter gekritzelt zu haben. Wein holen! stand gleich zweimal auf einem Übungsdiktatzettel. Am Rande einer geschichtlichen Quelle über Ludwig XIV. war eine komplette Einkaufsliste zu finden. Zum Nachdenken veranlagte mich allerdings nur noch eine Bemerkung, die unter den Notenspiegel einer Klassenarbeit gekritzelt war: 15 Uhr Dr. E. anrufen wegen » Befund «. Warum war Befund in Anführungszeichen gesetzt, fragte ich mich als Journalist sofort. Um was für einen Befund handelte es sich wohl? Fast gleichzeitig mit der Frage schoß mir eine komplette Schicksalsgeschichte in den Kopf. Bruno Langensiep hatte von einem Krebsleiden erfahren, mit dem er nur noch kurze Zeit zu leben hatte. Um sich ein schmerzhaftes Ende zu ersparen, hatte er sich das Leben genommen, allerdings so, daß es wie ein Unfall aussah. Wahrscheinlich, um seine Frau zu schonen. Ich blickte das Foto erneut an und überlegte, ob diese Frau geschont werden mußte.
    »Sie kommen zurecht?« ertönte es plötzlich

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