Ausgeblüht: Kriminalroman (Psycho-Krimi) (German Edition)
weiter.
„Ich liebe den Struwwelpeter. Ein großartiges Buch, diese kleinen schrägen Bösewichte, diese schwarze Pädagogik! Also, Heinrich Hoffmann war wirklich ein genialer Arzt und Psychiater. Finden Sie nicht auch?“
Die Sanitäter schwiegen, was Frank von seinen Ausführungen nicht abhielt. Hoffmanns Erkenntnisse in der Jugendpsychiatrie besäßen auch heute, genau 200 Jahre nach seiner Geburt, noch Gültigkeit.
„Der Struwwelpeter liegt auch in meinem Wartezimmer. Ich beobachte immer wieder, dass besonders Eltern, die hyperaktive Kinder haben, gerne zugreifen und sich köstlich amüsieren. Der Zappelphilipp ist eben voll der Prototyp des ADS-Kindes, finden Sie nicht auch?“
Frank wurde unterbrochen. Sie waren an einer großen Pforte angekommen. Der Kommissar drückte die Klingel, doch niemand kam, um ihnen zu öffnen.
Im Sichtfenster der Tür waren die Rücken zweier Polizisten zu sehen. Vor ihnen wälzte sich ein junger Mann auf der Trage, der von zwei Pflegern festgehalten wurde.
„Wir müssen einen Moment warten, die haben gerade eine Einweisung“, erklärte ein Sanitäter. Gebannt starrte Frank weiter durch das Fenster.
Der junge Mann war sehr mager, sein Gesicht grau und ausgemergelt. Die Kleidung verwahrlost, eine schmutzige zerrissene Jeans und darüber eine übergroße karierte Fleecejacke. Die verfilzten braunen langen Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er schien betrunken und stand anscheinend auch unter Drogen. Immer wieder versuchte er, sich aufzusetzen, wackelte, fluchte in einer undefinierbaren Sprache und wollte sich gegen die Gefangennahme wehren. Eine Psychiaterin eilte herbei. Die vielen Türen der Abteilung öffneten sich und neugierige Patienten streckten ihre Hälse raus. Manche traten auf den Flur und verfolgten das Theater im Eingangsbereich. Beim revoltierenden Neuankömmling angelangt, schaute die Psychiaterin prüfend zur Eingangstür, und als sie Frank sah, gab sie ihm Zeichen wegzugehen. Doch er blieb beharrlich stehen.
Da drückte sie ein Blatt Papier gegen das Fenster. Die Sicht wurde versperrt, nur noch wildes Geschrei war zu hören, und nach wenigen Minuten herrschte absolute Stille. Die Pforte sprang auf, die Polizisten gingen, der Patient war verschwunden, und Frank betrat zum ersten Mal in seinem Leben eine geschlossene Nervenheilanstalt.
Betont fröhlich grüßte er, winkte den Patienten, die immer noch im Gang herumlümmelten, und wandte sich der Krankenschwester zu.
„Ist meine Suite vorbereitet?“, fragte er salopp, und ihr strenger Gesichtsausdruck wich einem sarkastischen Lächeln.
„Ist das der Patient Stein?“ Der Kommissar nickte.
„Er kommt in das Mehrbettzimmer Nummer 25.“
„Ich will nicht in ein Mehrbettzimmer“, protestierte Frank.
„Schön artig, junger Mann, hier gibt’s kein Wunschkonzert.“
Schwester Cora hätte Franks Klassenkameradin sein können, keinen Deut älter, aber stärker sah sie aus, viel stärker und kräftiger, und sie wusste das. Die große burschikose Frau besaß natürliche Autorität, die, wer klug war, befolgte, denn sie hatte die Macht, hier in ihrem Revier. Durchtrainierte Wächter stets an ihrer Seite, ausreichend Beruhigungsmittel und Psychopharmaka, um eine ganze Kolonie von Querulanten lahm legen zu können.
„Schwester Cora, ich bitte Sie.“ Frank streckte ihr versöhnlich seine Arme entgegen. „Sie wollen mich doch nicht bei diesen Irren einquartieren, vielleicht noch mit diesem stinkenden durchgeknallten Junkie, der gerade eingeliefert wurde, nein Schwester Cora, das geht gar nicht. Ich bin kerngesund und benötige höchstens ein bisschen Zuneigung und Pflege. Außerdem bin ich Privatpatient und habe Anspruch auf ein Einzelzimmer!“
„Mag sein, Herr Dr. Stein, aber aus Sicherheitsgründen hat der Stationsarzt anders entschieden. Da sind Sie nicht alleine, und wenn etwas passieren sollte, ist immer jemand da, der auf Sie aufpasst.“
Fürsorglich streichelte sie über Franks Unterarm, ihre Finger blieben für einen kurzen Moment auf seiner Hand beruhigend liegen. Frank nutzte diesen Moment und legte seine andere Hand auf die ihre und redete auf Schwester Cora ein.
„Liebes, liebes Schwesterlein, ich kann Ihre Ängste verstehen, aber machen Sie sich keine Sorgen. Es wird keinen weiteren Suizidversuch geben. Es soll nämlich nicht sein, sonst hätte ich doch nicht überlebt, es gibt einen Grund, warum ich weiterlebe, und deshalb werde ich weiterleben, die Welt braucht
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