Ausgeblüht: Kriminalroman (Psycho-Krimi) (German Edition)
musste er ausgehen. Es wäre hilfreich und ein Leichtes gewesen, der netten Dame den Sachverhalt kurz zu erläutern, aber er scheute sich, er schämte sich. Er konnte ihr, obwohl sie ihm gerade ihre Loyalität erwies, unmöglich die Wahrheit sagen, sie würde ihn verachten und ihn die Verachtung spüren lassen. Ihn, der als Presbyter zu den angesehensten Leuten in der Kirchengemeinde gehörte, ihn, den verehrten Bauunternehmer, der als Baukirchmeister den Fachausschuss seit Jahren leitete und das Vertrauen der ganzen Gemeinde genoss. Nein, das konnte er nicht, seine Kehle war wie zugeschnürt, und so log er, entschuldigte sich für die Unannehmlichkeiten und erklärte, dass sein Haus in der Zeitschrift „Schöner Wohnen“ präsentiert werden solle, und er den Termin ganz vergessen habe, und deshalb der Fotograf versucht habe, ein optimales Foto von der Fassade zu machen. Die Sekretärin entschuldigte sich für ihren Anruf und schämte sich nun auch wegen ihres voreiligen unbegründeten Misstrauens, weswegen die Aktion abgebrochen worden war. Voller Anerkennung lobte sie seine Baukunst und sein wunderschönes Haus und verabschiedete sich mit Hochachtung.
Als er den Hörer auflegte, zitterte seine Hand vor Aufregung. Wieder läutete es, wieder und wieder. Die guten Bekannten hatten es gehört oder gelesen. Mitleid vortäuschend, waren sie im Prinzip doch nur extrem neugierig, urteilte er. Zum Teufel mit diesem Pack, dachte Albert und wiederholte die Mär von der manischen Depression. Schließlich war das die Version, die er auch der Kripo mitgeteilt hatte und eine entlastende Begründung für dieses schreckliche Vergehen. Seine These stützte er mit überzeugenden Fakten. Laut Statistik der Weltgesundheitsorganisation gehörte die Depression zu den am weitesten verbreitetesten Krankheiten überhaupt. Fast alle Patienten hätten Suizidgedanken, die Hälfte würde es versuchen, und 15 Prozent würden sich umbringen. Doch sein Ablenkungsmanöver missglückte. Die Liaison war niedergeschrieben, der Liebhaber mit Anfangsbuchstabe genannt, sein Foto zu sehen, wenn auch verfremdet, aber der Mann an Saskias Seite war eindeutig ein anderer, nicht er. Was denn da los gewesen sei? Mit dieser Frage sah er sich hartnäckig konfrontiert, und auf dieses Bombardement war er nicht vorbereitet, er stand mit dem Rücken zur Wand und verschaffte sich Entlastung, indem er beschloss, sein Leid zu klagen. Niedergeschlagen lamentierte er, auch nichts von dem Unfassbaren gewusst zu haben. Welch unglückliche Vermischung vieler unglücklicher Um- und Zustände. Die Depression und ihr Verhältnis, das sie jahrelang geheim gehalten hätte, könne er nicht nachvollziehen, denn jeder, der ihn kennt, wisse, was für ein großzügiger, toleranter Mensch er doch sei. Dann berichtete er noch von ihrem tragischen Gesundheitszustand und bat, in den nächsten Tagen ungestört zu bleiben, denn er wolle die kurze, ihm verbleibende Zeit ganz seiner Frau widmen.
Erschöpft und fröstelnd stand Albert auf, das durchnässte T-Shirt klebte an seinem Rücken. Arme und Beine waren von Gänsehaut überzogen. Die Wanduhr verriet ihm, dass er den Termin mit der Logistin verpasst hatte. Das kam ihm gelegen, denn er hatte nicht die geringste Lust, noch ein Mal mit Saskias Krankengeschichte konfrontiert zu werden. Eilig schrieb er dem Krankenhaus ein e Mail, entschuldigte sein Fernbleiben und bat, die Organentnahme trotzdem zügig vorzunehmen. Für Fragen stünde er telefonisch zur Verfügung. Man möge ihm schriftlich den Todestag mitteilen, damit er die Beerdigung weiter planen könne.
Aus dem Schrank nahm er seinen Trainingsanzug und die Laufschuhe. Joggen war eine gute Medizin bei Stress, sagten die Experten, und eine gute Vorbereitung auf sein Herrendoppel heute Abend in der Tennishalle.
Die Türschelle dröhnte durch das Haus. Genervt bediente er die Sprechanlage.
„Wer ist da?“
„Herbert Wengele vom Berliner Boten, ich wollte Sie fragen, ob ich schnell ein Foto von Ihnen machen könnte?“
„Nein, können Sie nicht!“
„Warum nicht?“
„Weil niemand ein Foto von mir und meiner Familie bekommt, verschwinden Sie!“
„Überlegen Sie sich das doch bitte, es ist besser, wir zwei erledigen das jetzt. Dauert auch nicht lange.“
„Nein.“ Albert schlug mit der Faust gegen die Schrankwand.
„Okay, dann warte ich draußen.“
„Was soll das heißen.“
„Irgendwann kommen Sie raus. Ich habe Zeit, und ich bekomme, was ich
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