Ausgeflittert (Gesamtausgabe)
langen Spaziergang. Als er nach meiner Rückkehr noch immer mit mir mault, packe ich meinen Koffer und bestelle mir ein Taxi.
»Marie, er macht sich nur Sorgen um euch«, versucht Paul zu vermitteln.
»Statt mir zur Seite zu stehen, demütigt er mich vor dir. Darauf kann ich verzichten. Ich werde für ein paar Tage nach Hamburg zu meinem Sohn und meinen Enkeln reisen. Vielleicht ist es ganz vernünftig, für kurze Zeit auf Abstand zu gehen.«
Frederik teilt Tobias Standpunkt. Er ist mir keine moralische Unterstützung, aber er nimmt sich Zeit, mit mir einen ausgiebigen Stadtbummel durch Hamburg zu unternehmen. Beim Anblick der Binnenalster und dem Überqueren der Elbbrücken beschleicht mich das erste Mal nach Jahren ein Gefühl von Heimweh. Die Angst, die ich seit Tagen mit mir herumgetragen habe, ist spurlos verschwunden. Mit dem Auto meiner Schwiegertochter fahre ich die Stationen meines alten Lebens ab. Ich besuche das Haus von Hanna und Karl, die Blankeneser Villa meiner Schwester Sophie und fahre die Häuser in der Eichenallee und der Lüneburger Heide an, in denen ich mit Steffen gelebt habe. Ist mein Leben mit Tobias nach acht Jahren noch so, wie ich es mir erträumt hatte? Besteht überhaupt noch ein Unterschied zu meiner Ehe mit Steffen? Es gibt Parallelen, die ich nicht leugnen kann. Ist Südfrankreich noch immer der Ort, an dem ich zu Hause sein will? Ich habe weder eine ehrliche Antwort auf diese Fragen noch eine Wahl. Clara muss wieder zur Schule. Ich nehme die Abendmaschine nach Genf und werde von Tobi vom Flughafen abgeholt. Er hat seine Sprache wiedergefunden und schlägt deutlich freundlichere Töne an. Als ich ihm von meinen trüben Gedanken erzähle, fährt er zusammen.
»Ist unsere Zeit vorbei?« frage ich.
»Nein, Marie, sie fängt gerade erst an. Aber wenn du genug hast von der Côte, dann brechen wir unsere Zelte ab. Wir finden einen neuen Platz, wo wir glücklich sein können. Hauptsache ist doch, wir sind zusammen.«
Wir verabschieden uns von Paul und Thea mit den Worten, dass sie das nächste Mal zu Besuch kommen müssen. Einen Termin wollen wir für die bevorstehende Adventszeit ausmachen. Für die Rückfahrt braucht Tobi über sechs Stunden. Er hält sich genau an die Geschwindigkeitsbegrenzungen und macht sogar zwei kurze Pausen. Er gibt sich als perfekter Unterhalter. Meine Äußerungen haben ihn wachgerüttelt. Mit der festen Absicht, mir zu beweisen, dass unsere Verbindung in keinster Weise mit den letzten Jahren der Simon Ehe zu vergleichen ist, fährt er mich heim.
Der kurze Straßenabschnitt vom Lokal bis zum Obst und Gemüse Eckladen leuchtet dunkel rot. Alle Fenster und Türen tragen den Aushang NEIN ZU SEX UND DROGEN. Ich blicke auf das Lokal. Wo einst Blumenkübel die Terrasse begrenzten, ist eine meterhohe Mauer errichtet. Auf der Baustelle wird nicht gearbeitet. Claire stürmt aus ihrem Salon und berichtet, dass die Behörde einen Baustopp erlassen hat und die Polizei stündlich kontrolliert, ob Vadim sich an das Verbot hält.
»Er hat einfach ohne Genehmigung mit den Maurerarbeiten begonnen. Seit gestern darf nicht mehr weiter gebaut werden. Im Übrigen, ich habe sein Angebot auch nicht angenommen. Allerdings waren die Mieter der oberen Wohnungen nicht so standhaft. Sie sind gestern ausgezogen. Bis auf unsere beiden Ladengeschäfte ist das Haus komplett leer.«
»Er wird sich durch uns nicht aufhalten lassen. Am schönsten Fleck des Ortes wird ein Edelpuff auf drei Etagen entstehen. Statt spielender Kinder, Straßenmusikanten und Maler mit ihren Staffeleien werden Dealer und Freier ihren Platz einnehmen.« Ich nehme Clara an die Hand und gehe mit ihr und Tobi zu Fuß unsere Einkäufe erledigen. Der Schlachter begrüßt mich überschwänglich. Er kommt hinter seiner Theke hervor und küss mich links und rechts. Freudestrahlend schenkt er Clara eine Wurst und berichtet von dem Baustopp. Das gleiche Schauspiel wiederholt sich beim Bäcker Rosier. Clara bekommt eine Gratis Rosinen Schnecke und mir wird ein Korb mit Buttons gereicht. Die runden, roten Anstecker sind mit dem Wort NO bedruckt. Der Bürgerverein hat sie anfertigen lassen und im ganzen Ort verteilt. Die Gemüsefrau winkt uns zu sich herüber. Auch ihre grüne Schürze trägt den runden Warnhinweis.
»Sie sind bestimmt sehr stolz auf ihre Frau, Herr Martin. Sie ist eine richtige Kämpferin. Zusammen werden wir diesen Lump aus unserem Ort vertreiben.« Clara wird mit
Weitere Kostenlose Bücher