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Ausgeliefert: Roman (German Edition)

Ausgeliefert: Roman (German Edition)

Titel: Ausgeliefert: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Child
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lange Geschichte«, sagte sie. »Angefangen hat das vor achtundzwanzig Jahren. Damals hat man meinen Vater ins Weiße Haus berufen. Die haben das damals mit vielversprechenden Typen getan. Er hat sich mit einem Politiker angefreundet, der Kongressabgeordneter werden wollte. Meine Mutter war damals mit mir schwanger, und seine Frau war auch schwanger und hat meine Eltern darum gebeten, Paten zu werden, und mein Vater hat sie gebeten, meine Paten zu werden. Also stand dieser junge Politiker neben meinem Taufbecken.«
    »Und?«, fragte Reacher.
    »Der Mann hat Karriere gemacht«, sagte Holly. »Er ist immer noch in Washington. Wahrscheinlich haben Sie ihn gewählt. Er ist jetzt Präsident.«
     
    Reacher ging wie benommen weiter. Sah immer wieder zu Holly hinüber, die tapfer mit ihm Schritt hielt. Hundert Meter westlich von der Strafhütte gab es einen kleinen Felsvorsprung,
auf dem keinerlei Bäume standen. Reacher und Holly blieben stehen und schwenkten in nördlicher Richtung ab, in die Richtung, aus der der Wind wehte.
    »Wo gehen wir hin?«, fragte Holly. Ihre Stimme klang beunruhigt.
    Reacher blieb plötzlich stehen. Er wusste, wo sie hingingen. Der Wind trug ihnen die Antwort entgegen. Ihm wurde kalt. Er bekam eine Gänsehaut und starrte die Werkzeuge an, die er in der Hand hielt, als ob er so etwas noch nie zuvor gesehen hätte.
    »Sie bleiben hier«, sagte er.
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Nein«, sagte sie. »Ich komme mit, wohin auch immer Sie gehen.«
    »Bitte, Holly«, sagte er. »Bleiben Sie hier, ich bitte Sie.«
    Sein Tonfall überraschte sie, aber sie ging weiter, schüttelte den Kopf.
    »Ich komme mit«, beharrte sie.
    Er warf ihr einen düsteren Blick zu, und sie gingen weiter nach Norden. Er zwang sich weiterzugehen, auf ihr Ziel zu. Fünfzig Meter. Jeder einzelne Schritt erforderte einen bewussten Willensakt. Sechzig Meter. Er wollte kehrtmachen und wegrennen. Einfach wegrennen und nie mehr stehen bleiben. Irgendwie den Fluss überqueren und verschwinden. Siebzig Meter. Er blieb stehen.
    »Bleiben Sie hier, Holly«, sagte er erneut. »Bitte.«
    »Warum?«, fragte sie.
    »Sie brauchen das nicht zu sehen«, sagte er mit kläglicher Stimme.
    Sie schüttelte wieder den Kopf und ging weiter. Er holte sie ein. Sie rochen es, lange bevor sie es sahen. Schwach, süßlich, unvergeßlich. Einer der vertrautesten und schrecklichsten Gerüche in der langen, schrecklichen Geschichte der Menschheit. Der Geruch von frischem menschlichen Blut. Zwanzig Schritte nachdem sie es gerochen hatten, hörten sie es. Das wahnsinnige Summen und Brummen einer Million Fliegen.
    Sie hatten Jackson zwischen zwei jungen Kiefern gekreuzigt. Man hatte ihm die Arme auseinandergezerrt und die
Hände durch die Handflächen und die Handgelenke an die Bäume genagelt. Man hatte ihn gezwungen, sich auf Zehenspitzen zu recken und hatte seine Füße flach an die Baumstämme genagelt. Er war nackt, und man hatte ihn verstümmelt. Er hatte einige Minuten gebraucht, um zu sterben. Soviel stand für Reacher fest.
    Jackson hing unbewegt da und starrte auf die wabernde Masse aus blauen, glänzenden Fliegen. Holly hatte ihre Krücke fallen lassen, und ihr Gesicht war kalkweiß. Ein gespenstisches, lebloses Weiß. Sie fiel auf die Knie und übergab sich. Drehte sich von dem schrecklichen Anblick weg und fiel nach vorn aufs Gesicht. Ihre Hände krallten sich blindlings in den Waldboden. Sie bäumte sich auf und schrie in die summende Stille des Walds hinein. Schrie und brüllte.
    Reacher beobachtete die Fliegen. Seine Augen waren ausdruckslos. Sein Gesicht war ohne Bewegung. Bloß ein winziger Muskel unten an seinem Kinn verriet etwas. Er stand ein paar Minuten reglos da. Jetzt verstummte Holly neben ihm auf dem Waldboden. Er ließ die Brechstange fallen. Warf seine Jacke über einen niedrigen Ast. Trat direkt vor die Leiche und fing zu graben an.
    Er grub in stummer Wut. Er rammte die Schaufel in die Erde, legte seine ganze Kraft hinein, durchhackte die Baumwurzeln mit wilden Schlägen. Wenn er auf große Steine traf, wuchtete er sie heraus und warf sie auf einen Haufen. Holly setzte sich auf und sah ihm zu. Sie sah die flammenden Augen in seinem ausdruckslosen Gesicht, sah die hervortretenden Muskelstränge an seinen Armen. Sie folgte dem gnadenlosen Rhythmus der Schaufel. Sagte nichts.
    Von der Arbeit wurde ihm heiß. Die Fliegen begannen sich für ihn zu interessieren. Sie verließen Jacksons Leiche und summten um seinen Kopf. Er ignorierte

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