Ausgeliefert: Roman (German Edition)
Holly.
»Hundertunddreizehn«, sagte Reacher.
Holly drehte den Kopf zu ihm hinüber.
»Was?«, fragte sie.
»Hundertunddreizehn Löcher im Dach«, sagte er.
»Na großartig. Wie spät ist es?«
»Halb vier, Chicagoer Zeit«, sagte er.
Sie kuschelte sich enger an ihn. Verlegte ihr Gewicht auf die Seite. Ihr Kopf ruhte auf seiner rechten Schulter. Ihr Bein lag auf dem seinen. Sein Schenkel war zwischen die ihren eingezwängt.
»Mittwoch, stimmt’s?«, sagte sie.
»Mittwoch«, antwortete er.
Sie war ihm physisch näher als viele andere Frauen das zugelassen hätten. Sie fühlte sich geschmeidig und muskulös an. Fest, aber weich. Jung. Duftend. Er ließ sich treiben, genoss das Gefühl und geriet ein wenig außer Atem. Aber er machte sich über ihre Beweggründe nichts vor. Sie war ganz gelockert, aber sie tat das, um ihr schmerzendes Knie auszuruhen und um zu verhindern, dass sie von der Matratze auf den Boden des Laderaums herunter rollte.
»Einundfünfzig Stunden«, sagte sie. »Einundfünfzig Stunden, in denen ich den Himmel nicht gesehen habe.«
Hundertdreizehn war eine Primzahl. Man konnte sie nicht als Resultat der Multiplikation irgendwelcher anderen Zahlen bekommen. Hundertzwölf bekam man, wenn man sechsundfünfzig mit zwei multiplizierte, oder achtundzwanzig mit vier, oder vierzehn mit acht. Hundertvierzehn bekam man, wenn man siebenundfünfzig mit zwei multiplizierte, oder neunzehn mit sechs, oder achtunddreißig mit drei. Aber hundertdreizehn war eine Primzahl. Keine Faktoren. Man kam nur auf hundertdreizehn, indem man hundertdreizehn mit eins multiplizierte. Oder indem man wütend eine Schrotflinte auf das Dach eines Lieferwagens abfeuerte.
»Reacher, ich fange an, mir Sorgen zu machen«, sagte Holly.
Einundfünfzig Stunden. Einundfünfzig war keine Primzahl. Einundfünfzig bekam man, wenn man siebzehn mit drei multiplizierte. Drei mal zehn gibt dreißig, drei mal sieben gibt einundzwanzig, dreißig und einundzwanzig ergeben einundfünfzig.
Keine Primzahl. Einundfünfzig hatte Faktoren. Er zog die schwere Kette mit dem linken Handgelenk hoch und hielt Holly umschlungen, beide Arme um sie gelegt.
»Es wird schon alles gut«, sagte er zu ihr. »Die werden Ihnen nichts zu Leide tun. Die wollen Sie gegen irgendetwas eintauschen und werden dafür sorgen, dass Sie gesund und fit bleiben.«
Er spürte, wie sie den Kopf an seiner Schulter schüttelte. Nur ein kleines Schütteln, aber ganz deutlich.
»Um mich mache ich mir keine Sorgen«, sagte sie. »Ich mache mir Sorgen um Sie. Wer zum Teufel wird Sie gegen etwas eintauschen?«
Er antwortete nicht. Es gab nichts, was er darauf sagen konnte. Sie kuschelte sich enger an ihn. Er konnte ihre Wimpern an seiner Brust spüren, als sie die Augen öffnete und schloss. Der Lieferwagen brauste weiter, schneller, als gut für ihn war. Er konnte spüren, wie der Fahrer ihn über seine natürliche Reisegeschwindigkeit hinaus beanspruchte.
»Und deshalb fange ich an, ein wenig unruhig zu werden«, sagte sie.
»Sie passen auf mich auf«, sagte er. »Und ich werde auf Sie aufpassen.«
»Das verlange ich nicht von Ihnen«, sagte sie.
»Das weiß ich schon.«
»Nun, ich kann nicht zulassen, dass Sie das tun«, sagte sie.
»Sie können mich nicht daran hindern«, erwiderte er. »Das alles betrifft jetzt auch mich. Diese Kerle haben daran Schuld. Die wollten mich abknallen. Ich habe da ein festes Prinzip, Holly: Leute, die sich mit mir anlegen, tun das auf eigenes Risiko. Ich bemühe mich, in dem Punkt sehr geduldig zu sein. Ich hatte einmal eine Lehrerin, irgendwo auf der Volksschule. Es war wohl auf den Philippinen, denke ich, weil sie immer einen großen weißen Hut trug. Also war es irgendwo, wo es heiß ist. Ich war immer doppelt so groß wie die anderen Kinder, und sie hat immer zu mir gesagt: ›Zähl bis zehn, ehe du böse wirst, Reacher.‹ Und diesmal habe ich ein gutes Stück über zehn hinaus gezählt. Ein gutes Stück. Und deshalb sollten
Sie sich damit abfinden, ob es Ihnen nun passt oder nicht. Wir machen das gemeinsam.«
Sie verstummten beide. Der Lieferwagen rollte weiter.
»Reacher?«, sagte Holly.
»Was ist?«
»Halten Sie mich«, sagte sie.
»Ich halte Sie ja«, sagte er.
Er drückte sie sanft, mit beiden Armen, um es ihr zu beweisen. Sie schmiegte sich enger an ihn.
»Reacher?«, sagte sie dann.
»Ja?«
»Wollen Sie mich wieder küssen?«, fragte sie. »Dann fühle ich mich besser.«
Er drehte den Kopf herum und lächelte sie in
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