Ausgeliehen
ein phantastisches und unlogisches Ende gehabt, so verrückt wie Ians Geschichte über seine Großmutter, und wenn ich mir die Mühe gemacht hätte, alles vorher zu bedenken, wären wir nicht hier. Ich hatte vergessen, dass alle Ausreißergeschichten so enden. Jeder kehrt nach Hause zurück. Dorothy findet den Weg zurück nach Kansas, Odysseus segelt zurück zu seiner Frau, Holden Caulfied bricht in seine eigene Wohnung ein. Zumindest ist Huck nicht nach Hause gegangen, aber was ist mit Jim passiert? Wahrscheinlich etwas Schreckliches. Ich konnte mich nicht erinnern.
Welches Happy End hätte ich mir in der ganzen Zeit vorstellen können? Es lauerte irgendwo, wie ein halb vergessener Traum. Da war das Bild eines Ortes, zu dem ich ihn bringen würde, vielleicht ein Ort in einem Buch: ein sonniges Haus mit weißen Wänden, ein Haus, in dem sich die Menschen um die Kinder kümmerten, wo sie ihm alles erklären würden und wo er für immer bleiben könnte oder zumindest, bis er stark genug war, um seinen Eltern gegenüberzutreten. Oder wir würden alle zusammen mit unserem glücklichen kleinen Boot lossegeln und ein neues Land auf neuer Erde gründen, ein Land, das sich aus dem Schaum des Ozeans erhebt: endlich oder wieder ein ideales Amerika.
35
Außergewöhnlich gut
Wieder war ich morgens um vier Uhr wach, die Kissen waren unerträglich hart, mein Herz schlug so schnell wie das eines Hamsters. Was immer auch kommen würde, Ian kehrte nach Hause zurück. Das war geregelt. Aber wohin würde ich gehen? Das Zimmer war von dem zugezogenen schweren Hotelvorhang stockdunkel, also stand ich auf, zog den Vorhang zurück und ließ das Licht vom Parkplatz herein. Dort, auf dem Parkplatz, Seite an Seite, standen mein Auto und sein Zwilling. Ich war nicht mehr überrascht. Ich war nur noch beeindruckt. Ich fragte mich, ob er uns den ganzen Weg zurück nach Hannibal verfolgen würde. Und dann? Mich abliefern und die Belohnung kassieren? Und was, wenn ich überhaupt nicht nach Hannibal fuhr? Würde er mir folgen oder Ian? Hinter wem war er eigentlich her?
Auch wenn ich nach Hause fahren würde und Mr Sonnenbrille in den dunklen gemieteten Keller zurückkehrte, aus dem er gekrochen war – ich wusste, dass Ian sich am Schluss verplappern würde. Noch wahrscheinlicher war, dass Pastor Bob die Geschichte aus ihm herauskitzeln würde. Und dann würde ich in Hannibal sein, hinter der Theke, bereit für die Verhaftung.
Und da war noch etwas: Ich wollte eigentlich gar nicht nach Hause. Ich würde Ian nie mehr wiedersehen, das wusste ich. Seine Eltern würden dafür sorgen, dass er nicht mehr in die Bibliothek käme, selbst wenn sie mich nicht verdächtigten. Ich konnte mir nicht vorstellen, was passieren würde, wenn wir uns zufällig träfen, wenn ich ihn bei der Parade zum 4. Juli sehen würde. Es wäre anders, geschmälert und traurig. Hinzu kam, dass Rocky nicht mehr mein Freund war – oder es vielleicht nie gewesen war. Und ohne Rocky und Ian mochte ich meine Arbeit nicht mehr.
Ich legte mich wieder hin und wartete auf den Morgen. Ian würde allein nach Hause fahren müssen. Wenn ich ihn selbst zurückfuhr, würde man uns dreißig Kilometer vor Hannibal wieder anhalten, weil ich mein Bremslicht noch immer nicht repariert hatte. Die Polizisten würden Ian erkennen, und nicht einmal mein Vater wäre imstande, eine Geschichte zu erfinden, die uns aus diesem Schlamassel herausziehen würde.
Ich zählte die hundertzwanzig Dollar, die ich noch in meinem Geldbeutel hatte, und machte den Fernseher an, schaltete aber den Ton ab. Ich schaute den Wetterkanal, betrachtete die farbigen Bänder, die immer weiter in östlicher Richtung quer durch das Land zogen. Als Ian um sieben Uhr aufwachte, schaltete ich den Fernseher wieder aus. »Bist du schon mal mit einem Greyhound-Bus gefahren?«, fragte ich.
Nein, das war er nicht, aber er hatte schon welche gesehen und reagierte sichtlich aufgeregt auf diese Aussicht, sogar als ich ihm sagte, er müsse allein fahren, und dann auch noch nachts. Vielleicht könnte er in St. Louis aussteigen und seine Eltern oder die Polizei anrufen. Ich würde alleine zurückfahren, sagte ich ihm. Das Wichtigste für mich war jedoch seine Sicherheit in diesen beiden Tagen. Ich überlegte, ihm mein Handy zu geben, das er dann, wenn er den Mississippi überquert hatte, aus dem Fenster werfen könnte, aber das konnte auf zu viele verschiedene Arten schiefgehen. Ich musste darauf vertrauen, dass Ian im Bus einen sehr
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