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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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hast du geglaubt, würde die Geschichte ausgehen?
    Ian kam aus dem Badezimmer, die Zahnbürste noch in der Hand, und sagte: »Richtig witzig ist, dass niemand recht hatte. Ist das nicht komisch? Ich dachte, es ist dieselbe Stadt wie Mankson, und du hast gesagt, es ist New Haven, und die Bibliothekarin hat gemeint, die Stadt würde vermutlich gar nicht mehr existieren. Und die Antwort ist ganz anders! Ich habe gedacht, du wirst schon recht haben, weil du wirklich gescheit bist, und ich habe gedacht, die Bibliothekarin wird recht haben, schließlich lebt sie hier und so weiter. Aber niemand hatte recht!«
    »Außer dir«, sagte ich.
    Er dachte kurz darüber nach, dann hob er die Zahnbürste triumphierend in die Luft und machte eine Verbeugung.
    Als er wieder auf dem Bett lag, nahm er Die 21 Ballone nicht noch einmal zur Hand, was mich ein bisschen überraschte. Die Seite, an der er das Fernsehprogramm des Hotels als Lesezeichen hineingesteckt hatte, war ausgerechnet die aufregendste Stelle, die, wo die Möwe ein Loch in den Wasserstoffballon pickt und der Professor auf der geheimnisvollen Insel notlandet. Stattdessen lag Ian da und schaute sich im Zimmer um, als erwartete er, dass sich weitere Geheimnisse von selbst lösten und sich weitere Landkarten ausbreiteten.
    Ich war hilflos, mir fehlte die Kraft zu sprechen, zu handeln, Entscheidungen zu treffen. Ich stürzte aus den Höhen meiner revolutionären Inbrunst zu Boden, und da war Ian, der mir gegenübersaß, sichtlich beschwingt von seiner Entdeckung. Ich beschloss, alles an ihn abzugeben, wieder einmal. Es ihm zu überlassen war eine Methode gewesen, meine Schuldgefühle zu beruhigen, moralisch und juristisch. Nun war es einfach ein Ausweg aus der Paralyse.
    Ich sagte: »Da du der Junge mit allen Antworten bist, musst du entscheiden, was als Nächstes geschieht. Wir haben kaum noch Geld. Ich kann welches besorgen, wenn wir es wirklich ganz bitter nötig haben, aber im Moment haben wir fast nichts mehr. Wir haben kaum genug, um zurückzufahren. Und wir werden nicht mehr auf der Straße betteln.« Ich versuchte nicht, ihn in eine bestimmte Richtung zu lenken, aber ich wollte ihm einen Vorwand liefern, für den Fall, dass er bereit war, nach Hause zu fahren. Der ganze Tag, mit Ausnahme meiner kurzen Inspiration durch den Grabstein, hatte sich angefühlt wie das Ende von irgendetwas. Das Ende unseres Geldes, das Ende des Landes. Und hatte mir Ian nicht dadurch, dass er uns gewissermaßen seine Großmutter finden ließ, sagen wollen, wir sind fertig? Er hätte uns etliche Tage länger in Vermont herumfahren lassen können, wenn er es gewollt hätte. Oder er hätte sagen können: »Oh, habe ich wirklich ›Vermont‹ gesagt? Ich habe ›Virginia‹ gemeint!«
    Er schaute zur Decke, als überlege er, was er zum Frühstück essen wollte. »Die Sache ist die, dass nächste Woche das Vorsprechen für das Theaterstück im Frühjahr stattfindet, und ich möchte unbedingt eine Rolle bekommen.«
    »Okay.«
    »Nur die Achtklässler bekommen Hauptrollen. Aber ich möchte trotzdem dabei sein, auch wenn es nur im Chor ist. Deshalb denke ich, wir sollten jetzt vielleicht zurückfahren.«
    Er starrte weiterhin zur Decke. Ich nehme an, er wollte mich einfach nicht anschauen.
    »Miss Hull, es tut mir leid, wenn ich das Thema wechsle, aber warum spielen die Dudelsäcke immer nur eine Melodie? Du weißt schon, das Lied, das immer bei der Parade gespielt wird?« Und dann lieferte er eine ziemlich gute Demonstration eines Dudelsacks. Dabei schaute er mich immer noch nicht an.
    »Ich habe keine Ahnung«, sagte ich. »Die meisten Komponisten schreiben nicht für Dudelsackspieler.«
    »Ich werde sie in meine Symphonie einbauen. Sie könnten eine eigene Gruppe im Orchester sein. Die Dudelsackspieler könnten im Publikum sitzen, ihre Instrumente unter dem Sitz verstecken und sie dann plötzlich alle auf einmal herausholen und spielen, das würde das Publikum verblüffen. Dann könnten sie jedoch keine Kilts tragen, sonst wüssten alle sofort Bescheid.«
    »Das würde bestimmt verdächtig aussehen.«
    Ich ging ins Badezimmer und legte mir einen kalten Waschlappen aufs Gesicht.
    Ich war überrascht – und überrascht, weil ich überrascht war –, aber ich wusste nicht, was ich eigentlich erwartet hatte. Hatte ich ihn wirklich allein erziehen und in irgendeine Schule einschreiben wollen? Ihn zu Hause unterrichten? Uns im Zirkus anmelden? Ganz hinten in meinem Kopf hatte diese Geschichte immer

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